Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
gleiche Ritual des Weckens und Gewecktwerdens, das Percy Gothein so eindrücklich beschrieben hatte. »Die fülle, die in diesen wenigen tagen in mich gelegt wurde«, berichtete Kommerell Mitte August an Wolters, »kann ich auch jetzt noch nicht ermessen.« 73
Die Trennung von der Freundin war bereits in die Wege geleitet. Kommerell hatte die etwas ältere Else Eichler bei einer mehrtägigen Wanderung von Studenten und Studentinnen durch den Odenwald
ein Dreivierteljahr zuvor näher kennengelernt. Sie lasen gemeinsam George-Gedichte, und Else erhielt zahlreiche stilisierte Abschriften. Ende Juni, also noch vor seiner Begegnung mit dem Meister, deutete Kommerell an, dass er wohl eine Zeitlang auf den Umgang mit ihr werde verzichten müssen. Drei Monate später folgte der Abschiedsbrief: »Ich darf keine Worte der Leidenschaft zu Dir mehr in den Mund nehmen und was ich nicht anders bannen kann, verschweige ich.« 74 Als beide über zwanzig Jahre später durch einen Zufall voneinander hörten, suchte Kommerell sich noch einmal die Stimmung dieses Sommers zu vergegenwärtigen und der Freundin von einst den Bann zu erklären, der ihn in die Welt Georges hineinzog:
Ich entsinne mich wohl noch jener Verwandlung der Heidelberger Landschaft, durch einen geisterhaften Ton, als murmelte ein ungeheurer Mund die Verse, die das Gerücht eines gewagten und titanischen Lebens in die schwingende Luft hinaustrugen: und die zarten und oft begangenen Liebeswege waren plötzlich nicht mehr da, und alles, womit sich das Herz vergnügt hatte, war ein verjährtes Spielzeug, dessen ich mich glaubte schämen zu dürfen … und nun war die ganze Gegend verzaubert durch den, der unentrinnbar schien, wo immer er aufstieg, das sagenhafte weisse Haupt wiegend, und von zwei langen Jünglingen gestützt … und die Füße wussten nichts anderes mehr, als mich zu ihm hinzutragen. Was folgte darauf? Eine 9jährige freiwillige Dienstbarkeit, mit wilden, aber nur inneren, wie vor 3000 Jahren in einem fernen Reich geschehenen Abenteuern … Was ist es nur in einem jungen Menschen, dass er das ganze Register der menschlichen Schicksale, die vor ihm liegen, mürrisch durchliest und sagt: das aber ist nicht unerhört genug – ich will den Magnetberg, obwohl man zum Magnetberg nur die Beziehung des an-ihm-Scheiterns haben kann! 75
Dichter ist die plötzliche Verwandlung der Welt von keinem der Freunde Georges beschrieben worden. Fast scheint es, als sei das Moment der Erweckung über den zeitlichen Abstand von zwei Jahrzehnten hinweg und trotz aller durch die spätere Trennung ausgelösten Abwehrreflexe nur weiter ausdifferenziert worden. Der späte Brief dokumentiert eindrucksvoll die Vielschichtigkeit des Erlebens, und er lässt zugleich ein außergewöhnliches Selbstbewusstsein erkennen. In Kommerell verband sich hohe Intelligenz mit dem Hang zum Leichten, Spielerischen, mitunter Kauzigen. Was diese komplexe
und schwierige Persönlichkeit zusammenhielt, war die Fähigkeit, sich die Welt durch das Medium der Sprache anzueignen und aus allem Geschehen die poetische Grundstimmung zu destillieren. Im unmittelbaren Anschluss an die Begegnung mit George begann Kommerell sich in die Romane Jean Pauls zu vertiefen. Dieser Autor ließ ihn nicht mehr los; 1924 wurde Kommerell mit einer Arbeit über Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau promoviert, 1933 legte er eine bahnbrechende Monographie vor.
Was Kommerell nach dem Zusammensein mit George und der Lektüre des Titan zur Komplettierung seines Glückes am Ende dieses Sommers noch fehlte, war ein geeigneter Freund. »Oft sehne ich mich glühend nach einem gefährten meiner altersstufe, der mich als stärkerer zwingt und dem ich die Waffen tragen darf.« 76 Als Kommerell dem Meister Anfang 1922 diesen Herzenswunsch offenbarte, hatte er bereits einen Schönen im Visier: den anderthalb Jahre älteren Johann Anton – der sei ihm »sehr lieb und ein süßes wiederaufleben verloren geglaubter dinge«. 77 Der Vater, Gabriel Anton, von Geburt Österreicher, war als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Halle Kollege des Internisten Franz Volhard; genau wie dessen Sohn Ewald war auch der junge Anton von Walter Elze nach Marburg gelockt worden und hatte sich für das Sommersemester 1921 in den Fächern Jura und Nationalökonomie immatrikuliert.
Als George Mitte Februar 1922 aus Berlin kommend in Marburg eintraf, konnte er Kommerells Favoriten in Augenschein nehmen. Es muss ein überwältigender
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