Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Euch und trage daran mehr, als ich je einem von euch gestanden habe.« 88 Da Glöckner einer Entscheidung auswich, verlor George die Lust an ihm und stellte den Kontakt allmählich ein. »Sein freund erträgts nicht. Eheleute soll man nicht stören«, antwortete er in späteren Jahren abfällig, wenn er gefragt wurde, wo der mittlere Ernst eigentlich abgeblieben sei. »Freundschaft zwischen männern muss erzieherisch sein und tragisch, sonst ist sie widerlich.« 89 Ernst Glöckner starb ein halbes Jahr nach George, am 10. Juni 1934 in seiner Heimatstadt Weilburg an der Lahn.
Der Fall Gothein erwies sich als komplizierter. Er hatte die Ideale des pädagogischen Eros so stark verinnerlicht, dass ihm die Suche nach geeigneten Knaben zum eigentlichen Lebensinhalt geworden war. Georges Forderungen nach »geistiger Zeugung« erfüllte er wie kaum ein anderer – leidenschaftlicher und radikaler noch als Ernst Morwitz, in dem er stets einen treuen Fürsprecher fand. Was Morwitz im Briefwechsel mit George vorsichtig als »Unschicklichkeit im offenen Nennen der Petroiden Affekte« umschrieb, 90 empfand dieser zunehmend als persönliche Belastung. Die Vorstellung, mit dem § 175 auch nur mittelbar in Konflikt zu geraten, war für ihn zeitlebens ein Albtraum. Noch Anfang der dreißiger Jahre erinnerte er sich, wie er zu Beginn des Jahrhunderts einmal »den jungen Gundolf zu einem Tee bei einer befreundeten Dame der Berliner Gesellschaft mitgenommen« habe und diese dann »vor der Gesellschaft eine Anspielung auf die Verhältnisse des Meisters zu Jüngeren« machte. Da sei er aufgestanden, habe dem Hausherrn die Meinung gesagt – »Sie haben eine Bestie im Haus« – und habe nie wieder seinen Fuß über die Schwelle gesetzt. 91
Weil für Gothein die sittliche Größe Georges nicht zur Diskussion stand, fehlte ihm jedes Bewusstsein für die Irritationen, die sein Auftreten im Namen Georges bei vielen hervorrief. Im Wintersemester 1918/19 lernte er in München Karl Löwith kennen, der sofort Gotheins »Ungewöhnlichkeit« spürte, die »für die meisten meiner Bekannten etwas Abstoßendes und Beängstigendes hatte«. Löwith ließ sich dadurch nicht beirren. »Dieser, auch im Verachten aller gesellschaftlichen Konventionen außerordentliche, schöne und leidenschaftliche Mensch zog mich gleich nach unserer ersten Bekanntschaft in seinen Bann.« 92 Überzeugt davon, dass Georges Charisma auch in ihm wirksam sei, beanspruchte Gothein die Führungsrolle. Löwith, nur ein halbes Jahr jünger, setzte sich zur Wehr, und so kam es bald zu ersten Spannungen. Am Wochenende fuhren die beiden manchmal in ein kleines Bauernhäuschen im Isartal, das Gotheins älterem Bruder gehörte. »Dort sprachen wir uns nächtelang aus bis zum Morgengrauen, umwogt von einer Musik der Freundschaft, der
wir uns doch nie ganz hingeben konnten, weil dunkle Widerstände einen Einklang verboten«, erinnerte sich Löwith. Korrespondierend hieß es später bei Gothein: »Da wir über die Freundschaft im tätigen Leben noch keinerlei Erfahrung gesammelt hatten, hielten wir uns zunächst an das, was wir in Büchern darüber gelesen. Dies bildete auf lange Zeit hinaus unser liebstes Gespräch.« 93 Als Gothein eines Abends die Theorie in die Praxis umsetzen und »hinab in den Duft seines Odems« tauchend ihn küssen wollte, kam dummerweise Löwiths Mutter dazwischen: »Da sprang er auf und seine Seele riss mitten entzwei.«
Durch das gemeinsame Pfingstfest »würdig geworden, die Besten des Landes mir zu Gefährten zu wählen«, 94 war Gothein in seinem Eifer bald nicht mehr zu bremsen. Schon wenige Tage nach dem Fest hatte er George stolz berichtet, dass er sein Glück jetzt mit »anderen jüngeren wertvollen Menschen« teile. »Und dass ich diese wertvollen Menschen erkennen kann, das ist das Schönste von dem, was ich Ihnen verdanke: dass Sie mich gelehrt haben, Menschen zu ›sehen‹.« 95 Ein Jahr später fiel ihm beim Gang über die Neckarbrücke ein hoch aufgeschossener blonder Junge auf. »Dass ich ihn gerade an dieser Stelle sah, wo ich zuerst gesichtet wurde, erschien mir als ein gutes Vorzeichen.« Gothein folgte ihm, stellte Nachforschungen an und bekam heraus, dass es sich um einen Heinz Zimmermann handelte, der zu einer Jugendgruppe gehörte, die am Abend auf einer Wiese am Werderplatz Reigentänze aufführte. Gothein bat George, »diesen blonden Schönen auch einmal in Augenschein zu nehmen«. Das Zuschauen vom Rand der Wiese inspirierte George
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