Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
klosterähnlichen Institution wird zum ersten Mal mit seinem eigenen Körper konfrontiert. Auslösendes Moment ist ein Blick in den Spiegel
Vor dem ich meines eigenen leibs geheimnis
Und anderer zuerst bedenken lernte. 47
Zur Verunsicherung des Zöglings trägt vor allem ein blonder Knabe bei, der jüngste Schüler, der »oft mich mit den grossen augen sucht«. Noch will der Dichter sich nicht eingestehen, dass dieser Junge »so gänzlich meinen sinn erschüttern könne«, aber er spürt, dass eine »wandlung« stattgefunden hat, die sein beschauliches Klosterdasein durcheinanderbringt und ihn seinen Lehrern entfremdet. »Dann kam die reise.. welch ein wink der fügung!« Der Aufenthalt »in andrer luft in andrem land« soll die durch die sexuellen Verwirrungen ausgelösten Unsicherheiten klären helfen.
Ob man die Reisen, die George im unmittelbaren Anschluss an das Abitur unternahm, unter diesem Aspekt als Flucht vor dem Eingeständnis homosexueller Disposition sehen sollte? 48 »Die meisten Homosexuellen reisen viel«, schrieb der dänische Erfolgsschriftsteller Herman Bang 1909 in einer autobiographischen Aufzeichnung, in der er mit Hilfe seines Arztes »die spezifischen Formen der Sozialisation eines homosexuellen Mannes in Mitteleuropa um die Jahrhundertwende« zu ergründen suchte. 49 Fest steht, dass sich George bei seinem Englandaufenthalt im Sommer 1888 leidenschaftlich verliebte. Er habe damals »an der maßlosen Liebe gelitten«, schrieb er wenige Jahre später, »bis ich nicht mehr leben wollte«. 50
Das Objekt der Begierde hieß Thomas Wellsted. George scheint sich zunächst nicht getraut zu haben, ihm seine Liebe zu gestehen. Nach seiner Abreise wechselten die beiden ein paar belanglose Grußkarten, Anfang 1891 bedankte sich Wellsted artig für ein Widmungsexemplar der Hymnen. Als George im Sommer dieses Jahres erneut nach London fuhr, scheint er bei Wellsted in Westminster gewohnt zu haben. Sie gerieten in einen so heftigen Streit, dass George nach sechs Tagen »in großer Erregung« abreiste. 51 Das Drama, das sich Anfang September 1891 in London abgespielt haben muss, wiederholte sich vier Monate später im Eklat mit Hofmannsthal.
Morwitz, der intimste Vertraute über mehr als ein Vierteljahrhundert, hat das 21. Lebensjahr als den Beginn »der großen Leidenschaft in der männlichen Seele« bezeichnet. 52 Aber nicht nur das Erwachen seiner Liebe zu jungen Männern, auch seinen dichterischen Neuanfang brachte George in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Englandaufenthalt vom Sommer 1888. »Als ich aus England zurückkam erinnert Euch«, schrieb er im Oktober 1890 an die Freunde Stahl und Rouge, »begann ich eine umwälzung durchzuringen«. 53 Was sich in diesem Prozeß der Neuorientierung anbahnte, war nichts weniger als die Geburt der Poesie aus dem Geist der männlichen Erotik. »Bildest Du Dir ein, dass man … den Körper weniger als die Seele liebt«, fragte er Carl Rouge. »Ich denke zuerst an den Körper... sie allein (körperl. Schönheit) ist es, die Dich entflammen kann.« 54
Akzeptierte George seine homoerotische Veranlagung, konnte dies den Bruch mit allen gültigen Moralvorstellungen nach sich ziehen. Verdrängte er seine Neigung zu Männern, musste er sich auf ein schwieriges Doppelleben einrichten. Diese Lösung widerstrebte ihm. Da er »zu keiner Zeit die Richtung seines Gefühls für einen ›Irrtum der Natur‹ gehalten hat«, 55 bewies er im Umgang mit dem Thema eine für seine Zeit erstaunliche Selbstsicherheit. Das lag vor allem daran, dass er in der Liebe zum Schönen, das für ihn stets nur männlich war, den kreativen Ursprung seines Dichtens erkannte. »Zumal verstofflichte und verhirnlichte zeitalter haben kein recht an diesem punkt worte zu machen«, schrieb er 1909 in der Einleitung zu seiner Übertragung der Shakespeare-Sonette, »da sie nicht einmal etwas ahnen können von der weltschaffenden kraft der übergeschlechtlichen Liebe.« Die Dichtung verschlüsselte diese Botschaft und wurde zugleich zu ihrem wichtigsten Medium.
»Der Schüler« ist das Gedicht, das den Durchbruch thematisiert. Die Eindrücke, die der Schüler auf seiner Reise sammelt, sind überwältigend neu, und weil er fürchtet, bisher »wie mit verbundnen augen« durchs Leben gegangen zu sein, nimmt er sie umso gieriger auf. Dann naht der Tag der Entscheidung. »Ich kehrte heim und hoffte zu genesen … mit fasten und gebeten / Zu bannen was vielleicht versuchung war.« Die Versuchung, das ist
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