Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
die Lage versetze, die in Raffaels Gemälden enthaltene göttliche Botschaft zu entschlüsseln. 9 Stein glaubte das Geheimnis aus der vielfach verästelten, heimlichen Korrespondenz der männlichen Figuren untereinander ableiten zu können, insbesondere aus den versteckten Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Männern. So stehe etwa in der »Schule von Athen« keineswegs der Disput zwischen Platon und Aristoteles im Zentrum des Geschehens; das Fresko in der Stanza della Signatura offenbare sein Bildprogramm erst, wenn man von dem fünften Jüngling links von Platon ausgehe und erkenne, dass »der Angelpunkt des Ganzen in dem Blicke liegt, der zwischen Aristoteles und diesem Knaben mit der fast frauenhaften Mantelschürzung und Gebärde getauscht wird«. 10 George liebte solche esoterischen Betrachtungsweisen und beförderte Steins Raffael trotz entschiedener Vorbehalte von Ernst Gundolf zum baldigen Druck. Der Autor konnte es kaum fassen. »Sind Enthüllungen dieser Art überhaupt erlaubt?«, habe er den Meister gefragt; und der Meister habe ihm zur Antwort gegeben: »Es gibt Zeiten, in denen Enthüllungen nicht nur erlaubt sind, sondern notwendig werden.« 11
Kantorowicz war von der Lektüre überwältigt. »Was mich an Ihrem Buche maßlos aufgeregt hat, was mir, wäre ich 10 Jahre älter, den Boden unter den Füßen weggezogen hätte oder mir unverständlich geblieben wäre«, schrieb er am 27. Dezember 1922 an Wilhelm Stein, sei, »dass nicht nur Wort und Tat eine Idee auswirken, sondern als drittes hinzukommt das Bild«. Das Buch habe ihm einen neuen Blick eröffnet und ihm mit aller Deutlichkeit klargemacht, »wie sehr ich – und mit mir wohl die Mehrzahl von uns, von Außenstehenden ganz zu schweigen – des ›bildhaften Sehens entwöhnt‹ bin«. 12 Eine Woche zuvor hatte sich Friedrich Gundolf beim Verfasser bedankt:
»Es ist ein im guten wie im bedenklichen Sinn geheimnisvolles Buch, ein Stück angewandter ›Geheimlehre‹, eine Mär vom Zauber der Heiligen Jugend.« 13 Schärfer als im Gegensatz dieser beiden Dankschreiben lässt sich der Generationenwechsel innerhalb des Freundeskreises 1922/23 kaum ausdrücken: Für Kantorowicz war der Steinsche Raffael weder bedenklich noch gar eine Mär, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er bei seiner weihnachtlichen Lektüre des Raffael erstmals die Dimensionen seines künftigen Themas erahnte. 14 Gegen Ende des Buches wagte Stein den Vergleich, dass sein Held nur »ein anderer Herzog« gewesen sei »als der dreihundert Jahre vor Raffael zu Jesi, einer Stadt der Marken zwischen Loreto und Urbino, aus deutschem Stamm doch von italischer Mutter geborene Friedrich«. 15 Konnte sich Kantorowicz einen geeigneteren Gegenleser wünschen als den Raffael-Biographen? Als er 1925 mit dem Schreiben begann, schickte er die einzelnen Kapitel an George erst, wenn sie »der Prüfung des Unterstaatsinquisitors St [ein]« standgehalten hatten. 16
Die Emanation des göttlichen Kindes dürfte für George der eigentliche Ausgangspunkt des Friedrich-Themas gewesen sein, und es war ganz in seinem Sinne, dass Kantorowicz die Darstellung mit der berühmten Heilandsprophetie in Vergils 4. Ekloge eröffnete. Vergil hatte dort die Geburt eines Weltherrschers vorausgesagt, der dem Erdkreis Frieden bringen und ein neues goldenes Zeitalter heraufführen werde. Das 40 v. Chr. entstandene Gedicht formulierte die mit dem Frieden von Brundisium verbundenen Hoffnungen, die sich in der Person des Augustus erfüllen sollten; christliche Interpreten deuteten es schon bald als Voraussage der Geburt Christi. Zwölfhundert Jahre später, bei der Geburt Friedrichs am zweiten Weihnachtstag 1194, griff Petrus von Eboli auf die messianischen Verkündigungen der 4. Ekloge zurück: »An der Wiege des letzten und größten Kaisers im christlich-deutschen Römerimperium stand somit, bedeutungsvoll genug, Vergil.« 17
Aber war der Neugeborene wirklich der Heilsbringer und Messiaskaiser, als den ihn die Hofdichter Heinrichs VI. feierten, oder doch der Feind der Kirche, der Widerchrist, das schreckliche Monstrum,
vor dem Joachim von Fiore und die päpstliche Propaganda vom ersten Tag an warnten? Als sich die Hoffnungen auf ein ewiges Friedensreich auch bei seinem Tod 1250 nicht erfüllt hatten, brach der Streit über Friedrichs wahre Natur aufs Neue aus. Der Kaiser sei gar nicht tot, verkündeten seine Anhänger, und selbst wenn er gestorben wäre, lebe er weiter, gemäß dem Rätsel der Sibylle: »Er
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