Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
lebt und lebt nicht.« Mit der öffentlichen Hinrichtung seines 16-jährigen Enkels Konradin durch Karl von Anjou auf dem Marktplatz von Neapel 1268 – dem Ende der Stauferherrschaft – erhielt die Legendenbildung neuen Auftrieb. Wie Deutsche mit der Erinnerung an einen solchen Verlust im Herzen weiterleben könnten, ohne Rache zu nehmen, wunderte sich ein venezianischer Troubadour mit Spitze gegen Frankreich. Nachdem im ausgehenden 13. Jahrhundert noch viele »falsche Friedriche« aufgetreten waren, zog der richtige als Held der deutschen Kaisersage um 1400 schließlich in den Kyffhäuser ein, wo er seither schlafend den Tag herbeisehnt, an dem er aufsteht, das Reich zu erneuen. 18
So wie Kantorowicz die vergilische Prophetie an den Anfang stellt, so lässt er auf der letzten Seite die Kyffhäusersage anklingen, um den Stoff auf diese Weise so nah wie möglich an die Gegenwart heranzuführen und ihn zugleich entscheidend zu verfremden. Im Kyffhäuser wohnte nämlich, wie jeder mit der Sage vertraute Leser wusste, längst nicht mehr Friedrich II., sondern der gemütliche Großvater Friedrich Barbarossa. Für das Kind aus Apulien hatten die Deutschen in der Reformation keine Verwendung mehr gehabt, und statt seiner war der Rotbart in den Kyffhäuser eingezogen. Nachdem ihm der Bart jahrhundertelang durch den Tisch bis auf die Füße gewachsen war, erholte er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Symbolfigur des erträumten Nationalstaats und feierte mit der Gründung des Reichs 1871 seine Wiederauferstehung. So in etwa erzählte es die borussische, die preußische, die kleindeutsche Variante. »Wäre nicht Barbarossas Enkel, so stände der Berg heute leer«, heißt es bei Kantorowicz, »doch der größte Friedrich ist bis heute nicht erlöst, den sein Volk weder fasste noch füllte. ›Er lebt und lebt nicht‹.«
Den Missbrauch der staufischen Kaisersage durch die Hohenzollern und die lächerliche Gleichsetzung des greisen Barbarossa mit dem greisen Barbablanca – wie Wilhelm I. von Felix Dahn keineswegs ironisch genannt wurde – hatte Stefan George schon 25 Jahre zuvor beklagt. Der Friedrich, den er erinnerte und dem er aus Anlass der Öffnung und Neuordnung der Gräber in der Kaisergruft im Dom zu Speyer 1902 dichterisch huldigte, war
Der Grösste Friedrich, wahren volkes sehnen,
Zum Karlen- und Ottonen-plan im blick
Des Morgenlandes ungeheuren traum,
Weisheit der Kabbala und Römerwürde
Feste von Agrigent und Selinunt. 19
Dieser Friedrich, von Gundolf noch 1924 gepriesen als »das reichste, geschmeidigste und kühnste Herrschergenie das die Welt seit Caesar gesehen«, 20 war 1927, als Kantorowiczs Biographie erschien, noch immer nicht erlöst. Aber es gab Hoffnung. Man musste lediglich das Orakel ein wenig anders deuten. »Vivit et non vivit« – das konnte sich in unkaiserlicher Zeit nicht mehr auf die Person des Kaisers selbst beziehen. »Nicht mehr den Kaiser: des Kaisers Volk meint der Spruch der Sibylle.« Mit diesem für viele zweifellos rätselhaften Satz endete das Friedrich-Buch. Der Kaiser käme also nicht wieder, dafür aber sein Volk. Aber welches Volk, das lebte und doch nicht lebte, war gemeint? Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit? Jener Teil des Volkes, in dem das Erbe der Staufer lebendig geblieben war? Oder gab es vielleicht eine andere, noch unbekannte kleine Schar, die nur darauf wartete, von ihrem Kaiser gerufen zu werden?
Vom Kyffhäuser – so viel ließ sich durch alles Geraune erahnen – führte ein direkter Weg ins Geheime Deutschland.
2
Am 28. Februar 1925 starb im Alter von nur 54 Jahren voller Gram über die Anfeindungen, die ihm von allen Seiten entgegengeschlagen waren, der erste deutsche Reichspräsident, der Sozialdemokrat und gelernte Sattler Friedrich Ebert. Obwohl Fragen der Tagespolitik im Freundeskreis gern schnöde beiseite geschoben wurden, war die Wahl des Nachfolgers natürlich auch dort ein Thema. Nachdem im ersten Wahlgang am 29. März kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte, wurde im zweiten Wahlgang am 26. April mit knapper Mehrheit der Ausweichkandidat des »Reichsblocks« gewählt: Paul von Hindenburg, jener Weltkriegsveteran, den George im Kriegsgedicht 1917 als schmucklosen Greis aus grauer Vorstadt gefeiert hatte und dem er drei Jahre später huldigte als dem Mann, »der aus den ungeheuren welt-wirren unsrer zeit als einzige sinnbildliche gestalt hervorragt«. 21 Zum Dank erhielt er im März 1932 als Erster die
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