Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
als eine politische Offenbarungsschrift. In Wahrheit handele es sich nicht um eine Literatur-, sondern um »eine Heilsgeschichte der Deutschen«, in deren Fokus »die Verwandtschaft des deutschen und des griechischen Ingeniums« stehe. Die Qualität des Werkes stand für ihn zwar außer Zweifel; die Darstellung der »Freundschaften, Fehden, Begegnungen, Trennungen« sei »von einziger Genauigkeit und Kühnheit des Blicks. Der Reichtum echt anthropologischer Einsichten ist … zum Erstaunen.« Die Passagen über Goethes Verhältnis zu Karl August, das Kommerell »als den exemplarischen Fall der Menschenbildung und Erziehung in Goethes Leben erkennt«, rechnete Benjamin zum Besten, was über Goethe geschrieben worden sei. Der Verfasser nehme »gelebte Stunden zur Hand wie der große Sammler Altertümer« und bringe sie zum Sprechen, indem er sie »fragend in der Hand dreht«. Bei aller Bewunderung aber wurde der Rezensent mit dem Buch nicht froh. Der Verfasser beschreibe nämlich nicht nur das Geschehene, sondern »auch was sich nicht ereignet hat, entdeckt er«. Und diese höhere Wahrheit des Nichtgeschehenen sei für ihn offenbar der Maßstab. »Ganz kann man dieses Buch nur verstehen aus einer grundsätzlichen Betrachtung des Verhältnisses, welches die Sekten zur Geschichte haben. Nie ist sie ihnen Gegenstand des Studiums, stets Objekt ihrer Ansprüche.«
Kommerell hatte den tieferen Zweck seines Unternehmens erst in der Schlusspassage enthüllt: Dem Volk, das weder den »kaum glaublichen Umfang seines Erbes« kenne noch »die Schwere seiner fernern Bestimmung« ahne, jenen herrlichen Morgen vor Augen zu führen, »wo die Jugend die Geburt des neuen Vaterlandes fühlt in glühender Einung und im Klirren der vordem allzu tief vergrabenen Waffen«. 73 Das Studium der maßgeblichen Dichter von Klopstock bis Hölderlin helfe, »den zeitlos unerschöpflichen Traum« von der Zukunft der Nation besser zu verstehen. Weil die wesentlichen Ausprägungen deutschen Dichtertums im Zeitalter Goethes noch deutlich voneinander geschieden gewesen seien, sich zum Teil sogar heftig bekämpft hätten, könnten manche Rätsel allerdings erst heute gelöst werden. Erst »das Heute meisterlicher Herrschaft« erlaube eine sinnvolle Deutung der
Vergangenheit und weise zugleich in die Zukunft. Der Name dessen, der die Kontinuität des Deutschtums sicherte, brauchte hier genauso wenig genannt zu werden wie am Schluss des Friedrich-Buches – es verstand sich für jeden Leser von selbst, wer gemeint war. Der von Kommerell »so leidenschaftlich vorgetragene Kulturbegriff des George-Kreises, der Seele und Welt identifiziert, Dichtung gleich Tat, Literaturgeschichte gleich Volksgeschichte setzt«, war nur um den Preis der Hybris zu erlangen, »die schon in Gundolfs George-Buch den Meister der Sekte zum Herrn der Epoche erklärt« hatte. 74
So wie Kantorowicz in der Friedrich-Biographie die gewaltigen Räume vermaß, in denen sich die Idee des Reichs über Jahrhunderte hinweg manifestieren konnte, so bemühte sich Kommerell jetzt um die Definition dessen, was im engeren Sinn den Begriff der deutschen Nation ausmachte. Man kann in seinem Buch »eine extreme Vulgarisierung« von Fichtes Reden an die deutsche Nation sehen; 75 man kann es aber auch als Gegenentwurf zu Friedrich Meineckes im gleichen Jahr in siebter Auflage erschienenem Standardwerk Weltbürgertum und Nationalstaat lesen, das den Nationalstaatsgedanken im Wesentlichen aus der Frühromantik und den Schriften der preußischen Reformer ableitete. Für Kommerell war das eine so schlimm wie das andere; Friedrich Schlegel und Wilhelm von Humboldt wurden mit einigen bösen Sätzen abgetan, Hegel oder Ranke kamen gar nicht erst vor.
Kommerell wollte den Begriff der Nation anders definieren: über die Dichter, die im Namen aller sprachen und die daher als Dichter der Gemeinschaft gelten konnten. Klopstock war für ihn der Erste, der gezeigt hatte, »daß Dichtung eine Sache der Gemeinschaft, daß der Dichter Sprecher einer Runde sei«. Was sich der Führer des Göttinger Hainbunds noch mühsam hatte erkämpfen müssen, war Hölderlin, dem letzten der Reihe, dem Seher des Künftigen, bereits »angeboren«. 76 Diese beiden hatten den vaterländischen Gedanken am entschiedensten vorangetrieben. Zwischen ihnen aber standen die großen Drei: Goethe (mit den drei Helfern Herder, Karl August und Schiller), dann Schiller selbst, der zum wahren Erzieher der Nation geworden sei, ein Leben lang »mit
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