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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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Ansprüchen zurück, und ein gemeinsamer Geist wollte sich trotz aller guten Absichten nicht einstellen. Einer der Beiträger, Karl Bleibtreu, nannte den Band nur ein Jahr nach Erscheinen böse »ein geistiges Asyl für Obdachlose«. 49
    Bei Lichte besehen, unterschieden sich die Gedichte der Jüngstdeutschen, wie sich die Stürmer und Dränger des frühen Naturalismus gern nannten, nur wenig von dem, was seit den Tagen der Reichsgründung an Lyrik produziert wurde. Den Ton gaben auch weiterhin die Großväter vor, Geibel und Bodenstedt, Scheffel und Heyse, die, noch zu Lebzeiten Goethes geboren, nach 1870/71 ihre Breitenwirkung entfalteten. Bodenstedts pseudo-orientalische Lieder des Mirza Schaffy oder Scheffels Trompeter von Säckingen – das nationale Rührstück vom Heidelberger Jurastudenten Werner Kirchhof, der mit seiner Trompete die Welt (und natürlich die Liebe der Jungfer) erobert -, 1851 beziehungsweise 1854 zuerst erschienen, wurden bis Mitte der neunziger Jahre in Auflagen von jeweils fast 150 000 Exemplaren verkauft. Geibels Gedichte, immerhin bereits 1840 veröffentlicht, erreichten bei seinem Tod 1884 die hundertste Auflage. Wie stark sein Einfluss noch auf der übernächsten Generation lastete, lässt sich daran ermessen, dass der 1863 geborene Arno Holz, der einzige unter den Jüngsten, der einen wirklichen Neuansatz erkennen ließ, wenige Tage nach Geibels Tod ein Gedenkbuch für ihn initiierte. Nicht aus Pietät, sondern weil er überzeugt war, damit als Dichter besser »ins Geschäft zu kommen«. 50
    Eine Sonderstellung kam ohne Zweifel Paul Heyse zu, dem Verfasser Hunderter von Prosa- und Versnovellen. Schon in jungen Jahren an den bayerischen Königshof berufen, war er wie von selbst in die Rolle des Dichterfürsten hineingewachsen und überstand als solcher alle Neuerungen. Als er 1911, im Alter von 81 Jahren, den Nobelpreis für Literatur erhielt, mochte sich allerdings kaum noch jemand an ihn erinnern. Ihn nahm George als Einzigen vom Verdikt
epigonaler Belanglosigkeit aus; in der künstlerischen Brache zwischen den Freiheitssängern und seinen eigenen Anfängen sei Paul Heyse derjenige gewesen, der »in Anspruch und Haltung« den Dichter verkörperte und damit »die edelste Erscheinung geistigen Menschtums« über die Zeit rettete – wenn auch nur als »ein schattenhaftes Abbild«. 51
    Die von den Verantwortlichen der Modernen Dichter-Charaktere in die Welt gesetzte und von Stefan George gern übernommene Behauptung, die deutsche Dichtung habe ein halbes Jahrhundert im Dornröschenschlaf gelegen, stand in auffallendem Gegensatz zur Masse des Publizierten. »Wahrscheinlich ist im deutschsprachigen Raum selten so viel Lyrik gedruckt und konsumiert worden wie gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts«, so Peter Sprengel, der die Anzahl der Lyrik-Anthologien zwischen 1870 und 1900 auf mehr als zweihundert hochgerechnet hat. 52 Sozialgeschichtlich lässt sich die Trivialisierung der Lyrik in dieser Zeit aus ihrer Fixierung auf das weibliche Publikum erklären; die Wende zu ästhetisch anspruchsvolleren Dichtungen nach 1890 hinge demnach auch damit zusammen, dass die Lyrik »das männliche Interesse zurückgewinnt« (Günter Häntzschel). Auch wenn vieles nicht über das Niveau Höherer-Töchter-Poesie hinausreichte, garantierten die Goldschnittpoeten doch eine gewisse Kontinuität. Die Übergänge jedenfalls waren fließend.
    Die Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 und das Erscheinen von Georges Hymnen ein Jahr später lassen sich literaturgeschichtlich zwar als Einschnitt begreifen. Die wirkliche Zäsur der Epoche aber lag dazwischen: Bismarcks Entlassung im März 1890. Nach einem kurzen Schock, der freilich im Ausland stärker empfunden wurde als im Reich – »Der Lotse geht von Bord« lautete der Titel der berühmten Karikatur des Punch -, machte sich Aufbruchstimmung breit, die schnell alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Die Hoffnung weiter Bevölkerungskreise auf einen Umschwung nährte sich aus dem Zauberwort vom »Neuen Kurs«, den Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt auf sämtlichen
Gebieten von der Sozialpolitik bis zur Bündnispolitik verkündete. Sein selbstbewusstes Auftreten, so empfand es die Mehrheit der Zeitgenossen, entsprach der gewachsenen Bedeutung des Reiches, das binnen weniger Jahre zur führenden Industriemacht in Europa aufgestiegen war.
    Die besondere Dynamik, die von dem »persönlichen Regiment«

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