Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Wilhelms II. ausging, verdankte sich einem ähnlichen Generationensprung wie dem, der auch in der Literatur zu verzeichnen war. So wie zwischen Geibel und den um 1860 geborenen Jüngstdeutschen eine Zwischengeneration nicht zum Zuge gekommen war, so hatte Wilhelm II. im sogenannten Dreikaiserjahr 1888 nach nur 99 Tagen seinen Vater beerbt und war mit 29 Jahren zum Nachfolger seines noch im 18. Jahrhundert geborenen Großvaters aufgestiegen. »Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts treten wir an im Zeichen der jungen Generation, die, mit ihrem jungen Kaiser unerwartet früh ans Ruder gekommen, mit vollen Segeln in das wild bewegte Zeitenmeer hinaustreibt«, schrieb eine scharfsichtige Beobachterin zum Jahreswechsel 1890/91 in ihr Tagebuch und fügte die bange Frage hinzu: »Wohin?« 53 Ein halbes Jahrhundert später war klar, dass der politische und der künstlerisch-geistige Aufbruch eine gegenläufige Entwicklung genommen hatten.
Der Modernisierungsschub reichte durch alle Schichten und führte zu einer unerhörten Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse. Jeder wollte bei der in Aussicht gestellten Neuverteilung dabei sein, niemand wollte den Anschluss verpassen. »Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Geschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde«, schrieb Max Weber am Jahresende 1889. Zehn Jahre später bilanzierte Georg Simmel: »Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es scheint, durch die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst kommen.« 54 Die Deutschen wurden reizbar und nervös, Neurasthenie avancierte zur Modekrankheit. Die wilhelminische Ära, das »nervöse Zeitalter« hatte begonnen. 55 Auch Stefan George wurde vom Fieber
der Nervosität erfasst. »Jene Krankheit wen[n] Du es So nennen willst hat sich überhaupt bei mir in letzter zeit gesteigert bis zum excess«, schrieb er über seine ersten zweieinhalb Monate in Berlin. 56 Die hektische Betriebsamkeit, die er zu Beginn der neunziger Jahre entfaltete, war von tiefer innerer Unruhe gekennzeichnet, als habe er Angst, zu spät zu kommen.
Die Spitze der Avantgarde bildete der im Frühjahr 1889 gegründete Theaterverein Freie Bühne, dem George und Carl August Klein noch vor Jahresende als Mitglieder beitraten. 57 Im Januar 1890 erschien im Verlag von Samuel Fischer die erste Nummer der Freien Bühne für modernes Leben , die sich in den folgenden Jahren – von 1894 an unter dem Titel Neue Deutsche Rundschau – als führende Zeitschrift der Moderne etablieren sollte. Moderne, das war das Zauberwort, der zentrale Begriff, den besetzen musste, wer im literarischen Gerangel Erfolg haben wollte. Die rivalisierenden Gruppen suchten sich gegenseitig den Rang abzulaufen und schlugen sich die Begriffe nur so um die Ohren. Schon deshalb sollte man sich bei der Beurteilung der Literatur der Jahrhundertwende vor Stilbegriffen wie Symbolismus oder Naturalismus, Neuromantik oder Fin de siècle hüten. Wie immer, wenn zu viele in dieselbe Richtung drängen, war eine allgemeine Begriffsverwirrung die natürliche Folge, und am Schluss lag die Moderne für viele in der Unübersichtlichkeit selbst. Simmel hielt das Nebeneinander, die »Vielheit der Stile«, für die Ursache der Stillosigkeit und darüber hinaus für ein Charakteristikum von Übergangszeiten, denen es grundsätzlich am Willen zu einheitlichen Weltanschauungen fehle. 58 In den Gedichten Georges glaubte er kurz vor der Jahrhundertwende die verloren gegangene Totalität wiederzufinden.
Die führende Zeitschrift des Frühnaturalismus war lange Zeit die von Michael Georg Conrad in München herausgegebene Gesellschaft , die sich nach Gründung der Freien Bühne zu einer Art süddeutscher Opposition auswuchs. Dass George sein Gedicht »Erkenntnis« 1890 ausgerechnet bei Conrad hatte veröffentlichen wollen, zeugte von einer erstaunlichen Beweglichkeit. Das publizistische Umfeld war
ihm offenbar ziemlich gleichgültig, solange er hoffen konnte, gedruckt zu werden. 59 Die Enttäuschung, dass seine Gedichte durch ihm unbekannte Redakteure wiederholt abgelehnt wurden, dürfte ihn in seinem Vorhaben bestärkt haben, sich ein eigenes Forum zu schaffen. Die Gründung der Blätter für die Kunst stand in so unmittelbarem Zusammenhang mit der Zurückweisung durch den etablierten Literaturbetrieb, dass die Frage nahe liegt, ob es sich möglicherweise um eine
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