Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Philipp machte sämtliche Familiensärge ausfindig und ließ sie aus allen Teilen des Landes unter Trauergeläut herbeischaffen; die noch lebenden Mitglieder der königlichen Familie bestellten testamentarisch Tausende von Seelenmessen im Voraus. 1888, ein Jahr vor der Spanienreise Georges, war für die Sarkophage früh verstorbener Prinzen, die das Thronerbe nicht angetreten hatten, ein eigenes Panteón de los Infantes eingerichtet worden, das George zu dem in den Hymnen veröffentlichten Gedicht »Der Infant« anregte. 20
Der Escorial war Kloster und Schule, Universität und Gelehrtenanstalt, Universalbibliothek und Reliquiensammelstätte in einem; außerdem diente er der königlichen Familie als angenehmer Sommeraufenthalt. Vor allem aber kündete der Escorial vom Durchhalte- und Siegeswillen des katholischen Glaubens: »Alles was die Lutheraner, die Kalvinisten, die Anglikaner beseitigt, verhöhnt, geleugnet, zerstört haben, klösterliches Leben, Sakramente, Dogmen, Heiligenverehrung, Reliquienkult, Symbolik und Liturgie, christliche Kunst und christliches Kunsthandwerk, alles das soll den Gegnern und Verächtern zum Trotz im Escorial nicht nur eine Heim- und Pflegestätte finden, sondern eine wahrhaft Tridentinische Renovatio erleben.« 21 Im Zentrum dieses Kosmos lebte der Souverän in vollkommener Isolation, und so war der Escorial bei aller äußeren Prachtentfaltung zugleich »die Hochburg der königlichen Absonderung, Vereinzelung und Überhöhung, der Inbegriff und die Weihestätte der königlichen Unnahbarkeit«. Die mit gewaltigen Mitteln ins Werk gesetzte Utopie Philipps II., der den Prozess der Säkularisierung stoppen und eine spirituelle Erneuerung des Lebens aus der Kraft des Glaubens herbeiführen wollte, wurde für den 21-jährigen George zum Déjà-vu. Spanien – das war die Reise in eine ferne Zeit, die sich als Teil der eigenen Vergangenheit herausstellte.
Über San Sebastian fuhr George zurück nach Paris und von dort weiter nach Bingen. Als er Mitte Oktober 1889 nach Berlin kam, »traf er am ersten Tage zufällig auf seine spanischen Freunde, deren Vater hier ein Druckwerk für die Regierung vollendete«. 22 Ob es wirklich ein Zufall war? Ob nicht die Peñafiels, als sie von Paris nach Berlin umzogen, George überredet hatten, mit nach Berlin zu gehen und dort sein Studium aufzunehmen? Keine seiner größeren Unternehmungen hatte er bisher ins Ungewisse geplant. Nach London, Montreux, Paris war er aufgrund von Empfehlungen gereist, und auch die Spanienreise verdankte er dem persönlichen Kontakt mit den Peñafiels. Mit ihnen verbrachte er jetzt in Berlin »einige Monate herzlicher Freundschaft. Sie durchstreiften gemeinsam die große Stadt und lernten auf weiten Wanderungen die kargen Reize der märkischen Landschaft kennen.« 23 Ohne die drei jungen Spanier, räumte George 1913 ein, wäre er damals »wohl wenig aus seiner Stube gekommen«. 24
Auswanderungspläne tauchten zum ersten Mal im Februar 1890 auf. Dem Bund mit den Spaniern hatte sich inzwischen ein Kommilitone Georges angeschlossen, Maurice Muret aus der französischen Schweiz, der ebenfalls nicht abgeneigt schien, Europa zu verlassen. Im März wurde es ernst. Muret reiste für die Semesterferien nach Hause an den Genfer See, George lud die beiden jüngsten Peñafiels, Porfirio und Julio, für zwei Wochen nach Bingen ein. »Wie sehr bedauerte ich es«, schrieb er am 8. April an Muret, »dass Sie nicht in jenen wunderbar schönen vorfrühlingstagen mit hier am Rheine waren in der gesellschaft der gevattern Peñafiel.« 25 George hatte die beiden nach Bingen mitgenommen in der Hoffnung, dass es ihnen zu dritt gelingen könnte, den Vater von den Auswanderungsplänen zu überzeugen. »Von wieviel atmosphären ist der druck, den Sie auf Ihre eltern ausüben«, fragte Carl August Klein. »Hoffentlich ist kein allzu starker notwendig und werden sie auch schon leichter für die emigration des sohnes stimmen.« 26
Mexiko erschien George als das Gelobte Land. Einer wie er werde drüben bestimmt sein Glück machen, ermunterten ihn die Peñafiels. In einem prächtigen Atlas – wohl einem Geschenk der Mexikaner – erkundete George erst einmal die topographischen Gegebenheiten.
Im April bestellte er bei einer Buchhandlung in Barcelona einige Bände spanischer Klassiker. 27 Zu Beginn der Semesterferien fuhr er für ein paar Tage nach Kopenhagen, wo er einen Dänen polnischer Abstammung besuchte, den er in Berlin kennengelernt haben
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