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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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ihnen zumindest literarisch ein ordentliches Ende beschieden sein.

2
    Georges Andeutung im Brief an Stahl vom Oktober 1890, er sei möglicherweise nur noch für kurze Zeit in Deutschland, entsprang keineswegs einer momentanen Laune. Auswanderungspläne beschäftigten ihn seit Anfang des Jahres, und das Zielland hieß Mexiko. Er habe verschiedene Pläne, schrieb George am 2. Januar an Stahl, und »das kommende jahr wird entscheiden, ob sie lebensfähig resp: fortbildungsfähig sind«. 10
    Der Wunsch, nach Mexiko auszuwandern, war durch den geselligen Umgang mit den drei jungen Söhnen des mexikanischen Arztes und Regierungsbeamten Antonio Peñafiel geweckt worden. George hatte die Mexikaner während seines ersten Paris-Aufenthaltes kennengelernt und sofort damit begonnen, seine rudimentären Spanischkenntnisse aufzubessern. Auf dem Binger Gymnasium war er durch einen Mitschüler aus Venezuela erstmals mit dieser Sprache in Berührung gekommen und hatte, noch ohne sie wirklich zu verstehen, aus reiner Lust an ihrem Klang, Stücke aus dem Romancero auswendig gelernt, die er noch mehr als fünfzig Jahre später aufsagen konnte. 11 Wenn sich der Sprachfanatiker in Paris jetzt ins Spanische einarbeitete, dann nicht nur aus Liebe zu dieser Sprache, die er damals für die schönste hielt und für die »einzige, in der Dichtung, wie er sie wünschte, möglich sei«, sondern vor allem »aus dem Gefühl tiefster Freundschaft für diese fremden Knaben … da ihm die geliebten Münder diese vollen Laute in Herz und Ohr riefen«. 12
    Ende August 1889 reiste George nach Spanien. Er hatte eine von Peñafiel unterschriebene Empfehlung des mexikanischen Konsulats in Paris in der Tasche. Spanien spielte in Pariser Künstlerkreisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Land der Sehnsucht eine ähnliche Rolle wie Italien in der Phantasie der Deutschen, und so dürfte George auch von seinen französischen Freunden eine Reihe von Tipps bekommen haben. Mit der Eisenbahn, teilweise zu Fuß durchquerte er zunächst den noch unerschlossenen spanischen Norden, traf Ende des Monats in Madrid ein und besuchte von hier aus Toledo,
»die außerordentlichste Stadt, die er kenne«, die Residenz Aranjuez mit den königlichen Gärten, die er in den Pilgerfahrten besang, und weitere Städte im Süden, den er als »schon ganz afrikanisch« empfand. 13
    Wolters brachte die Bedeutung Spaniens für George auf den Punkt: »Dort überkam ihn das seltsame Gefühl des Wiedersehens mit einer längst entschwundenen Heimat.« Georges lebenslange Liebe zu diesem Land sei gar nicht anders erklärbar, als dass hier »ein unheimlicher Tiefenraum der Erinnerung in ihm aufbrach«. 14 Die Spuren lassen sich durch zahlreiche Gedichte des Frühwerks verfolgen:
    Wandel der Seele geschah
Als ich die üppig und edel
Zu mir sich neigenden wedel
Erster palmen wiedersah. 15
    Vorübergehend übernahm George aus dem Spanischen die vorangestellten Frage- und Ausrufezeichen 16 sowie auf Dauer den Hochpunkt. Während des Krieges träumte er davon, wenn alles vorbei sei, eine Zeitlang nach Spanien zu gehen, und in seinen letzten Monaten blätterte er zur Zerstreuung gern in spanischen Illustrierten. Vor allem Georges Kopfbedeckung legte Zeugnis ab für seine besondere Bindung an Spanien. Gleich zu Beginn seiner Reise, womöglich schon in Irún, der Grenzstation der spanischen Nordbahn, erwarb er die erste Baskenmütze, und noch die letzten Fotos aus Minusio zeigen ihn mit Barett. Er »wollte aber immer nur das echte béret haben, an dem das baskische Zeichen in den Rand eingewoben ist«, 17 so wie auch die von ihm geliebten hellen Strickjacken möglichst aus Kamelhaar sein mussten.
    Den wohl gewaltigsten Eindruck seiner Reise empfing George beim Besuch des Escorial. Hier, im Herzen Spaniens, knapp 50 Kilometer vor den Toren Madrids, »rief die harte, fast unerbittliche Strenge der Landschaft mit den finsterstolzen Königsschlössern gewaltige Bilder einer königlichen Einsamkeit und unnahbaren Größe in ihm wach«. 18 Es war die Welt Philipps II., des düstersten Herrschers, den die neuere europäische Geschichte kennt. Erbaut zu Ehren des Märtyrers
Laurentius, war der Palast als eine überdimensionierte Begräbnisstätte für die gesamte spanisch-habsburgische Familie gedacht, »ein dynastisches Pantheon sozusagen, in dem sie alle zusammen, Väter und Söhne, Enkel und Urenkel, zu einer stummen Geschlechtergemeinschaft vereint, den Tag der Auferstehung erwarten werden«. 19

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