Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
kennengelernt hatte und sein Urteil positiv ausgefallen war, setzten die Blätter ihre künstlerische Glaubwürdigkeit früh aufs Spiel. Nichts kennzeichnet die drohende Entwicklung hin zur Mittelmäßigkeit besser als die Tatsache, dass George einen belgischen Literaten, der mit Mühe deutsche Verse schrieb, und einen Polen, der ihm seine Gedichte mit Hilfe von französischen Linearübersetzungen erläutern musste, um vieles höher stellte als genialische Unbequeme wie Max Dauthendey oder Karl Gustav Vollmöller, die es nach gelegentlichen Auftritten in den Blättern vorzogen, ihren Ruhm anderswo zu finden. Über die weitere Entwicklung beider Dichter bemerkte Wolters später süffisant, Dauthendey sei bald »ins Absurde« verfallen, Vollmöller habe »sein Heil in der Schreibung von Mirakelstücken für das Theater gesucht« und sei dabei »in die bedenkliche Nähe unserer psychopathischen Wissenschaft« gerückt. 25
Wie einfach war dagegen der Verkehr mit Waclaw Lieder, den George im September 1891 über Saint-Paul in Paris kennengelernt haben dürfte. Der zwei Jahre ältere Pole gehörte zu jenen stillen, ein wenig abseits stehenden Sonderlingen, von denen sich George in besonderer Weise angezogen fühlte. Er hatte alle seine Hoffnungen auf einen 1889 in Krakau veröffentlichten Gedichtband gesetzt, war damit bei der Kritik auf der ganzen Linie durchgefallen und zog sich daraufhin trotzig nach Paris zurück. Die Stadt war nach dem Scheitern der polnischen Unabhängigkeitsbewegung 1831 für Zehntausende Polen zur Wahlheimat geworden. Hier schlüpfte Lieder in die
Rolle des exilierten, unter seinen Landsleuten verkannten Dichterkönigs. Dieses Image verwob er geschickt mit seiner angeblich aristokratischen Herkunft. Abwechselnd nannte er sich »de Lieder« oder »Lieder-Warminsky« (von Ermland) und entschied sich am Ende, in Anlehnung an den Geburtsnamen seiner Mutter, für Rolicz-Lieder, »was im Doppelnamen einem Adelsprädikat gleichkommt«. 26
Hätte George diese »ästhetische Form von Hochstapelei« geahnt, wäre sie ihm wahrscheinlich nicht einmal unzulässig erschienen. Für ihn verkörperte der Pole den Adel schlechthin: Lieder sei »in der äußeren Erscheinung wie im ganzen Wesen der ritterlichste Mensch« gewesen, der ihm je begegnet. 27 Er war, hieß es in einem Widmungsgedicht Georges, »Der seltnen Einer die das los erschüttert / Verbannter herrscher«. So sah jeder im anderen den, der er selber zu sein glaubte, und im Bewusstsein ihrer Schicksalsgemeinschaft spendeten sie sich gegenseitig Trost: »durch deine hoheit / Bestätigst du uns unser recht auf hoheit«. Nicht zufällig zählte das Schlussgedicht aus den Büchern der Hirten- und Preisgedichte zu Lieders Lieblingsversen. Besungen wird dort »das den menschen fremde trauern / Des der ein königtum verlor«. 28
In Paris fühlte sich Lieder genauso einsam wie George. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, als Dilettant ein Lehrbuch der arabischen Sprache zu verfassen (das 1893 tatsächlich erschien), und vergrub sich zu diesem Zweck am liebsten in die Nachschlagewerke der Bibliothèque Nationale. In immer geringeren Auflagen von 60, 50, 30 und zuletzt 20 Exemplaren mit dem Eindruck »Öffentliche Rezension verboten« ließ er hin und wieder ein schmales Gedichtbändchen erscheinen. Die feierlichen, barocken Gedichte waren »nicht durchweg schlecht« (Karl Dedecius), wiesen aber eine Fülle von Skurrilitäten auf. So verwendete Lieder unter anderem eine eigene Orthographie, mit der er das Polnische zu archaisieren glaubte. George hat mehr als dreißig Gedichte Lieders übersetzt. Auch wenn sie dadurch um einiges besser wurden, blieben sie noch immer weit hinter denen d’Annunzios und der Franzosen zurück, mit denen sie George 1905 in seiner Anthologie Zeitgenössische Dichter auf eine Stufe stellen wollte. 29
1893/94 hielt sich Lieder in Wien auf, wo ihn George im Juni 1894 ein paar Tage besuchte, im November kam Lieder nach München. Im Februar und März 1896 waren sie viel in Paris zusammen, und im Jahr darauf fuhr George noch einmal für zwei Wochen an die Seine. Er verabredete sich mit Mallarmé, besuchte wohl auch noch einen der Dienstagabende in der rue de Rome, traf Gérardy, der aus Brüssel angereist war, und lernte über diesen auf einem Empfang des Mercure de France Oscar A. H. Schmitz kennen, einen Freund Wolfskehls, der seit über einem Jahr in den Blättern veröffentlichte. Der eigentliche Anlass für Georges letzte
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