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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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bezog sich zweifellos auf Thomas Wellsted, in den er sich 1888 in London verliebt hatte -, und seither wisse er, dass man die Liebe eines jungen Mannes nicht erzwingen könne. Statt sich seinem Schmerz hinzugeben – »der Schmerz verweichlicht den Charakter« -, solle Rassenfosse versuchen, ihn » rein zu bewahren«:
    Mein lieber Freund: Sie sehen an diesem großen Blatt Papier, dass ich die beste Absicht habe, Ihnen soviel wie möglich zu schreiben. Ich weiss Ihr Vertrauen sehr wohl zu würdigen und bin weit davon entfernt, Sie wegen einer so gemeinhin menschlichen Sache zu verurteilen. Ich vermutete so etwas bereits ein wenig … Wenn ein junger Mann Ihres Alters sich als tief unglücklich bezeichnet, gibt es dafür stets nur einen einzigen Grund … Als ich etwa zwanzig Jahre alt war, habe ich in gleicher Weise an der maßlosen Liebe gelitten – bis ich nicht mehr leben wollte. Heute erinnern mich diese vergangenen Schmerzen an ein erhabenes Leben, ein übermenschliches Leben. Die Jahre haben mich gelehrt, dass es einen viel stärkeren Schmerz gibt, nämlich diesen: in die weite, ganz mit Asche bedeckte Ebene des Lebens zu blicken, wo alle Schmerzen, alle Freuden, alle Gefühle langsam einschlummern … Und darin liegt mein einziger Trost für Sie: dass es einen viel stärkeren Schmerz gibt als den Ihren und dass Ihr Freund darunter leidet. Jawohl, stärker, heftiger, eben weil man daran nicht stirbt … Ich wäre glücklich, wenn diese Zeilen Ihnen ein wenig Mut machten und Sie in dem Willen bestärkten, eine Wiederannäherung zu vermeiden, die ein noch so junges Leben auslöschen könnte! 12
    Indem er für den Liebeskummer seines Freundes so viel pädagogisches Verständnis zeigte und Rassenfosse wie einem jüngeren Bruder zuredete, zog George zugleich auch eine scharfe Grenze. Souverän
und ohne den Freund zu verletzen, machte er ihm klar, dass er, George, über solche Leidenschaften inzwischen hinaus sei. Wie weit auch immer er sich 1894/95 mit ihm eingelassen haben mochte: eine langfristige Liebesbeziehung, die sich Rassenfosse wohl erhoffte, kam für George nicht in Betracht. Sein ausgeprägter Narzissmus hätte das nie zugelassen. Auch dürfte Rassenfosses Neigung zur Weinerlichkeit Georges Bindungsängste erheblich verstärkt haben. Je flehentlicher er umworben wurde, desto mehr Härte legte er an den Tag, und unterstrich damit auch seine Männlichkeit. Das Abstrafen als Schutzmaßnahme vor den eigenen (homoerotischen) Gefühlen hat Robert Musil 1906 in den Verwirrrungen des Zöglings Törleß eindrücklich geschildert: »Er sagt, wenn er mich nicht schlagen würde, so müßte er glauben, ich sei ein Mann, und dann dürfte er mir gegenüber auch nicht so weich und zärtlich sein. So aber sei ich seine Sache, und da geniere er sich nicht.« 13
    Was musste George fürchten? Verbot ihm sein Stolz, sich auf eine solche Beziehung einzulassen? Jedenfalls vermochte ihn nicht einmal das Erlebnis erster sexueller Erfahrungen aus seiner Isolation zu reißen. In der Jugend dürfe einem schon einmal die eine oder andere Dummheit unterlaufen, pflegte er später zu sagen, aber wer auf sich achte, müsse hinterher auch nichts bereuen. »Man darf sein herz nicht wegwerfen … Das erotische verlangt nicht nur hingebung sondern auch selbstbeherrschung. Ans nichtmehrloskönnen gewöhnt man sich wie an eine krankheit.« 14 Das Erwachen seiner Sexualität, das er sich nur schwer eingestehen konnte, rettete George ins Gedicht: »Der lüfte schaukeln wie von neuen dingen / … / Entbietet mir ein neues abenteuer.« Endlich habe das Leben ihnen beiden beschert, »Was lang uns einzig ziel erschien auf erden«. Im »glutwind« dieser Leidenschaft – »Wenn eins des andren heisses leben trinkt« – erlebten die Freunde dann jene »hohe« Stunde, »Die uns vereinte, die in ihrer lohe / Gestalten um uns tilgte und gewalten«. 15
    Die zehn Gedichte erschienen unter dem Titel Sieg des Sommers als dritter Zyklus des Jahrs der Seele . Sie sind in ihrer Struktur komplizierter und weniger eingängig als die Gedichte der beiden vorangehenden
Zyklen Nach der Lese und Waller im Schnee . Es fiel George offensichtlich leichter, seiner unerfüllten heterosexuellen Liebe zu Ida Coblenz Ausdruck zu geben, als das Glück zu formulieren, das er in einer homoerotischen Beziehung fand. Die Gleichzeitigkeit beider Beziehungen darf nicht unterschätzt werden: Zwischen der ersten Begegnung mit Ida im März 1892 und dem Treffen in Tilff lagen nur vier

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