Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
seit langem, seit den Tagen Heinrich Heines, nicht mehr vernommen habe. Leider stehe der Dichter noch stark unter dem Einfluss Baudelaires; er fürchte sich offenbar vor den »gesunden Wallungen des Lebens« und reagiere statt dessen müde auf bizarre Reize. Es sei beklagenswert, dass die Franzosen jetzt offenbar auch in Deutschland den Ton angäben. Zwar zitierte Verwey die Ausführungen im zweiten Heft der Blätter , in denen Georges Eigenständigkeit gegenüber den französischen Vorbildern betont wurde, überzeugt hatten sie ihn aber nicht. 1
Ließ man diesen Vorbehalt außer Betracht, konnte Verwey die Gedichte Georges nicht genug rühmen und nannte ihr Erscheinen ein Ereignis ersten Ranges, »von höchster, nämlich dichterischer Bedeutung in den geistigen Beziehungen« zu Deutschland. Seit viereinhalb Jahren publizierte George nun, aber von den durch seine französischen und belgischen Freunde lancierten Artikeln und einigen marginalen Erwähnungen abgesehen, hatte er so gut wie keine Beachtung gefunden. So einfühlsam wie von Verwey waren seine Gedichte noch nicht besprochen worden, und George nahm die erste Gelegenheit wahr, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Im September 1895 verbrachte er mit seiner Schwester, mit der er in diesen Jahren regelmäßig gemeinsam Ferien machte, zwei Wochen an der holländischen Küste. Der Wunsch, Verwey kennenzulernen, dürfte bei der Wahl des Ferienorts eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.
Den ersten Eindruck, den George hinterließ, als er am 11. September gegen Mittag mit der Straßenbahn von Leiden in Noordwijk aan Zee eintraf, hat Verwey zwölf Jahre später in einem Gedicht festgehalten: eine schlanke Gestalt mit Baskenmütze, auf der Plattform der Trambahn stehend und langsam an Verweys Haus vorübergleitend. Die beiden kamen auf Anhieb gut miteinander aus. Etwas verwirrt war George, als er am Mittagstisch von Kitty, der Frau des Hauses, begrüßt wurde. Offenbar wollte er sich einen jungen Dichter – Verwey war gerade dreißig geworden, also nur drei Jahre älter als er – nicht im Ehestand vorstellen. Am Nachmittag führte Verwey den Besucher in die holländische Dichtung der achtziger Jahre ein, die er an der Seite
von Willem Kloos entscheidend mitgeprägt hatte. Probeweise übersetzte er hin und wieder ein paar Verse, und George, der ihm gegenüber saß, machte sich fleißig Notizen. Schnell entstand eine vertraute Arbeitsatmosphäre. »Als wir da saßen, fiel mir gleich auf, dass sein Gesicht im Profil schmal, von vorn jedoch breit war, eine Kreuzung, die ich noch bei niemandem so gesehen hatte und die zweifellos die Verbindung einer reichen Natur mit einer strengen Form bedeutete.« 2
Als er sich drei Monate später aus Berlin für »jenen eigentümlichen wolausgefüllten und so vertrauten nachmittag in Ihrer werten familie« bedankte, berichtete George von neuen Plänen. Er habe vor, im Frühjahr in Brüssel und Paris »einen vortrag ›über die deutsche dichtung von heute‹ zu halten«. Ob das nicht eine Gelegenheit wäre, sich wiederzusehen. 3 Verwey verstand dies als Wink und fragte George, ob er den geplanten Vortrag nicht auch in Holland halten könne. Wenn er nicht vor März käme, wäre genügend Zeit, zuvor noch einen Aufsatz über ihn zu platzieren. Nachfrage steigert den Marktwert, und Verwey kannte die Spielregeln des Literaturbetriebs so gut wie George. Es wäre ihm am liebsten, antwortete dieser, von einer literarischen Gesellschaft offiziell eingeladen zu werden. Hätte Verwey sich erkundigt, wer denn die Veranstalter in Paris und Brüssel seien, hätte George ihm gestehen müssen, dass es gar keine Veranstalter gab.
Erst Verweys Initiative bot George Gelegenheit zu einem umgehenden Vorstoß bei seinen französischen und belgischen Freunden. Am 23. Januar teilte er Albert Saint-Paul in Paris mit, er sei eingeladen, in Holland über deutsche Literatur zu sprechen; ob es nicht denkbar wäre, auch vor einem französischen Publikum aufzutreten. Saint-Paul konnte George jedoch nur in Aussicht stellen, den »Vortrag« im Mercure de France unterzubringen. Als zuverlässig erwies sich wieder einmal Gérardy; am 31. Januar fragte er George, ob er den für Holland geplanten Vortrag nicht auch in Brüssel halten wolle. Drei Tage später schrieb George an Hofmannsthal, er sei auf dem Weg nach Holland, wo er »in mehreren städten über deutsche Dichtung von heute zu reden« habe. 4 Zum ersten Mal bewährten sich die über die Jahre in
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