Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Übersetzertätigkeit und das Experimentieren mit Prosa neue sprachliche
Mittel zu erschließen. Vom Dichten in fremden Sprachen führte im Winter 1892/93 dann eine direkte Linie zum Dichten in fremden Formen, das er »spiel und übung« 14 nannte. Angeregt womöglich durch einen illustrierten Artikel über die Manessische Liederhandschrift in den Monatsheften von Velhagen und Klasing, begann er Gedichte im Stil der Minnesänger zu schreiben; bald nahm er auch Antike und Orient als Räume neuer dichterischer Welterfahrung in den Blick. Zwei Jahre lang hat »das Rollengedicht in historisierenden Kostümen« sein Dichten maßgeblich geprägt. 15
Sieh mein kind ich gehe.
Denn du darfst nicht kennen
Nicht einmal durch nennen
Menschen müh und wehe.
Mir ist um dich bange.
Sieh mein kind ich gehe
Dass auf deiner wange
Nicht der duft verwehe.
Würde dich belehren,
Müsste dich versehren
Und das macht mir wehe.
Sieh mein kind ich gehe. 16
Die Person, die George zu allen diesen Kostümierungen inspirierte, war niemand anders als Ida Coblenz. »Sie ist die Serena der Hirtengedichte , die Menippa der Preisgedichte , die Melusine der Sagen «, ohne sie hätte George weder die Sänge eines fahrenden Spielmanns noch Das Buch der Hängenden Gärten geschrieben. 17 Mit Ida Coblenz hatte für ihn eine neue Phase dichterischer Produktion begonnen, sie war in diesen Jahren zu dem geworden war, was sie immer hatte sein wollen: seine Muse. Ihr erstattete George deshalb auch Bericht, als er im Herbst 1895 die Ernte einfahren wollte: »Ich stehe wieder an einem wendepunkt und blicke auf ein ganzes leben zurück das wie ich fühle von einem ganz anderen abgelöst wird. ich möchte es mit der herausgabe meiner bücher schliessen. ich möchte Hymnen Pilgerfahrten und Algabal im ersten, Hirtengedichte Sagen und Sänge und Hängende Gärten im zweiten und die lezten gedichte als Annum animae
oder Jahr der Seele im dritten vereinigen. so sind meine gesungenen, meine gemalten und meine gesprochenen werke zusammen.« 18
Selten hat sich George in der Beschreibung seiner publizistischen Pläne so weit vorgewagt wie in diesen Sätzen an Ida Coblenz. Sie bestätigten zunächst, was schon in der Eröffnungsnummer der Blätter angedeutet worden war, dass die drei schmalen Frühwerke als Einheit Hymnen Pilgerfahrten Algabal zu sehen seien. Die Gedichte, die seither entstanden waren, unterschied George in die »gemalten« und die »gesprochenen«, und entsprechend plante er den lyrischen Ertrag der zurückliegenden Jahre auf zwei neue Bände zu verteilen. Diese Bände grenzte er nicht nur untereinander und gegen die »gesungenen« Erstlinge ab, er unterteilte auch jeden Band wieder in drei Zyklen. Mit der bevorstehenden Veröffentlichung, so erklärte er der Freundin emphatisch, sei ein ganzer Lebensabschnitt für ihn beendet. Aber der groß gedachte Plan eines gleichzeitigen Erscheinens der beiden neuen Bände zusammen mit einer öffentlichen Neuausgabe seiner Erstpublikationen ließ sich, in Ermangelung eines Verlegers, nicht umsetzen.
Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten erschienen als bescheidener Privatdruck in einer Auflage von zweihundert Exemplaren im Dezember 1895. Zwischen den auch literaturgeschichtlich aufregenden Erstlingen und dem zwei Jahre später erschienenen, populär gewordenen Jahr der Seele wurden sie oft vernachlässigt. Die Gedichte enthielten »die spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist«, schrieb George in der Vorrede. Vorsorglich wies er aber darauf hin, dass sie »von unsren drei grossen bildungswelten« nicht mehr enthielten, als »in einigen von uns noch eben lebt«. Dennoch wurden die Bücher gern als Bildungsgedichte behandelt, so als habe sich George an allerlei antiken und mittelhochdeutschen Versmaßen abgearbeitet. Ihr experimenteller, zukunftweisender Charakter wurde übersehen. Wo im deutschen Sprachraum gibt es 1895 ein ähnlich minimalistisches Gedicht wie dieses:
Sprich nicht immer
Von dem laub,
Windes raub,
Vom zerschellen
Reifer quitten,
Von den tritten
Der vernichter
Spät im jahr,
Von dem zittern
Der libellen
In gewittern
Und der lichter
Deren flimmer
Wandelbar. 19
Hofmannsthal schrieb einen höchst einfühlsamen Aufsatz über die Bücher der Hirten- und Preisgedichte . Er sprach vom »Triumph der Jugend« in diesen Versen und von der »Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Manier«. In
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