Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
eingebunden. Aber auch in diesem Punkt musste er Abstriche machen, denn Wolfskehl war weder besonders zuverlässig, noch hielt er sich an Termine. Nachdem George ihm im Oktober 1896 noch herzlich für seine standhafte Mitarbeit am dritten Jahrgang gedankt hatte, beklagte er sich drei Monate später zum ersten Mal in sarkastischem Ton über mangelndes Engagement. In Zukunft gedenke er Wolfskehl »mit aufträgen zu verschonen die Ihr geist willig empfängt aber Ihr fleisch unfähig ist auszuführen«. 76 Der so Gescholtene tat zerknirscht, ließ sich aber auch in der Folge kaum je aus der Ruhe bringen. »Der Meister gab mir, von der Träumer Schlag, / Oft auszuführen was mir gar nicht lag.« 77
Bei allem Selbstbewusstsein, das ihn auszeichnete, fühlte sich Wolfskehl tief in Georges Schuld. Hatte der Meister nicht recht, wenn er ihm sein ständiges Umherschweifen und Sich-Verzetteln, seine Bequemlichkeit und mangelnde Einsatzbereitschaft vorhielt? Wolfskehl war von einem latent schlechten Gewissen geplagt, und um die Jahrhundertwende geriet das Verhältnis in eine bedenkliche Schieflage. »Die viel zu besorgte und unterwürfige Haltung der Wolfskehls wirkt nicht gut auf Stefan«, stellte ein gemeinsamer Freund im Frühjahr 1902 kritisch fest. Wolfskehl und seine Frau nähmen
viel zu viel Rücksicht auf ihn. Das wirke sich nachteilig auf den Umgang der Wolfskehls mit anderen Gästen aus. 78
Gut drei Monate später schrieb Wolfskehl wie jedes Jahr einen Geburtstagsbrief an George, und diesmal übertraf er sich selbst. »Ich weiss wirklich nicht ob ohne Sie die heutige deutsche Welt bestehen könnte: Sie haben zugleich das Thor geöffnet den Weg gezeigt und sind selber bis zum Ziel gekommen.« Am Ende seines epistolaren Ergusses ernannte er den Freund und Meister gar zum »Führer des Neuen Menschen«. 79 In der nächsten Folge der Blätter gab Wolfskehl dann eine dichterische Vision unter dem Titel »Der Meister«. Zu Beginn des Achtzeilers lässt er George sagen: »Ich weiss den willen der in euch ruht, / Geblendet träumt im schäumenden blut, / All was in euch quillt und sich selber nicht kennt / Verworrnen flackerns düster brennt -«. 80 George gab einen Sonderdruck in Auftrag und verteilte ihn an langjährige Freunde. Wolfskehl stellte das Blatt gerahmt auf seinen Schreibtisch. In der Schlusszeile hatte er, knapp zehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung, seine Beziehung zu George auf den Punkt gebracht: »Euch dank ich mein WISSEN: mir danket den WEG!« Die Maxime gab vor, wie George von seinen Freunden von nun an gesehen werden wollte. Die Mythenbildung war in eine neue Phase getreten.
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Neue Perspektiven
Der gemeinsame Freund, der im Frühjahr 1902 die Ergebenheit von Karl und Hanna Wolfskehl im Umgang mit George als problematisch empfunden hatte, war der holländische Dichter Albert Verwey. George und er kannten sich zu diesem Zeitpunkt fast sieben Jahre; seit 1896 hatten sie sich alljährlich gegenseitig besucht. Der Holländer war dabei nicht nur zu einem der wichtigsten Gesprächspartner für George geworden, er hatte auch geschafft, was bis dahin niemandem wirklich gelungen war: Georges Vertrauen zu erwerben. Erst Verweys zweiwöchiger Besuch in München im April 1902 brachte eine Zäsur; ihre Freundschaft ließ an Intensität nach, und zwei Jahre später kam es wegen Verweys Ablehnung des »Wunders« Maximin zu einer dauerhaften atmosphärischen Störung.
Im Frühjahr 1895 war Albert Verwey durch einen Lesezirkel in Leiden auf die Blätter für die Kunst aufmerksam geworden. Da seine eigene Zeitschrift, die ein Jahr zuvor gegründete Tweemaandelijksch Tijdschrift, ihre Leser gern über literarische Trends des Auslands unterrichtete und die Blätter für die Kunst sich ihrerseits als Schaltstelle im europäischen Netzwerk präsentierten, entschloss sich Verwey zu einem ausführlicheren Bericht über die neue Strömung in Deutschland. Den entscheidenden Anstoß verdankte er wohl dem im April-Heft des Mercure de France (und parallel in der Neuen Deutschen Rundschau ) veröffentlichten Hinweis Mallarmés: So wie eine Generation zuvor Richard Wagner in Paris durch Baudelaire entdeckt worden sei, so werde jetzt Baudelaire in Deutschland entdeckt – auf dem Weg über die Blätter für die Kunst . Die Zeitschrift und die von ihr propagierten Ziele erwähnte Verwey nur beiläufig, sein eigentliches Interesse galt den Gedichten Stefan Georges. Hier gebe es eine
Lyrik zu entdecken, wie man sie aus Deutschland
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