Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
lebe »ganz abgeschlossen von der Welt, aber von einem ganzen Kreis enthusiasmierter Jünger, Schüler, Nachahmer umgeben«, notierte ein Besucher der stadtbekannten »Verbrecher-Abende« bei Otto Erich Hartleben im Juli 1896. »Er scheint – nach einem Gedicht zu urteilen, das Scheerbarth vorgestern rezitierte – sehr auf die Form zu halten. Fritz [Endell] sagt, Platen habe großen Einfluss auf sie. Auszeichnend
für die ganze Richtung scheint zu sein (verehren Jean Paul): ein dunkler Drang zum Großen, Tiefen (Reaktion gegen die Schalheit des Naturalismus).« 16
Der Herbst 1897 brachte neue Konstellationen, vielversprechend wie nie, und diesmal sollte alles klappen. Zunächst machte George seine beiden wichtigsten Berliner Freunde, Karl Wolfskehl und Melchior Lechter, mit Albert Verwey bekannt, den er am 15. Oktober um 11.47 Uhr, aus Weimar kommend, am Anhalter Bahnhof abholte. George, der in diesem Jahr in der Markgrafenstraße 81 abgestiegen war, wo er auch in den beiden folgenden Jahren logierte, hatte Verwey eingeladen, bei ihm zu wohnen. Wolfskehls Bleibe in der Bernburgerstraße war von dort bequem zu Fuß zu erreichen, Lechter wohnte ein Stück weiter in der Kleiststraße. Verwey, Wolfskehl und Lechter mochten sich auf Anhieb: Die Freundschaft, die sie damals schlossen, überdauerte die mit George um viele Jahre.
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Derjenige unter den dreien, dem sich George menschlich wie künstlerisch am nächsten fühlte, war Melchior Lechter. Mehrere Gründe machten ihm diesen Mann, den er 1895 kennengelernt hatte, auf Anhieb sympathisch. Drei Jahre älter als George, kräftig bis korpulent und schon früh zur Rundlichkeit neigend, sah Lechter aus »wie ein wohlgenährter Pfarrer«. 17 Er besaß »einen außergewöhnlichen Sinn für kräftigen Humor«, strahlte eine große innere Ruhe aus und verlor bei aller Feierlichkeit, die seine zweite Natur zu sein schien, die einfachen und praktischen Dinge nicht aus den Augen. Seine Liebe gehörte der Musik, besonders Chopin und Wagner; seit 1886 pilgerte er, wann immer es ihm möglich war, nach Bayreuth. Darüber hinaus faszinierte ihn alles, was mit fernöstlicher Lebensweisheit, mit Mystizismus, Spiritismus und Theosophie zu tun hatte. Nach allgemeinem Urteil war es äußerst schwierig, ja unmöglich, ihm etwas übel zu nehmen oder gar in Streit mit ihm zu geraten. Auch wenn es wegen
Lechters penibler und langsamer Arbeitsweise im Laufe ihrer zehnjährigen Zusammenarbeit hin und wieder zu kritischen Situationen kam, schlug George ihm gegenüber nie jenen gereizten Ton an, den sich in späteren Jahren sogar Verwey gefallen lassen musste.
Lechter verfügte weder über die Weltläufigkeit Verweys noch über Wolfskehls Bildung und intellektuelle Brillanz. Er war ein Handwerker, den vor allem die Qualität der in Frage kommenden Materialien interessierte und der künstlerisch vollkommen unreflektiert zu Werke ging. 1865 im katholischen Münster geboren und als eines von acht Geschwistern in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, war er nach Absolvierung einer Glasmalerlehre mit 18 Jahren nach Berlin gekommen und an der Königlichen Akademie aufgenommen worden. Das Studium finanzierte er sich durch Nachtarbeit für verschiedene Glasmalerwerkstätten; gelegentlich ließ ihm seine älteste Schwester Anna etwas Geld zukommen, und bald erhielt er eigene Aufträge. Im November 1896 reüssierte Lechter mit einer weithin beachteten Ausstellung bei Fritz Gurlitt, dem Galeristen, der bis Ende der achtziger Jahre Arnold Böcklin in Berlin vertreten und durch den von ihm vertriebenen Kupferstich der Toteninsel zu dessen Popularität beigetragen hatte; wegen undurchsichtiger Geschäftspraktiken Gurlitts war es zum Bruch mit Böcklin gekommen.
Lechters Ästhetik gründete auf den von England ausgehenden, mit den Namen William Morris und John Ruskin verbundenen Bemühungen um eine Gesamterneuerung des Kunsthandwerks, die sämtliche Bereiche von den Gebrauchsgegenständen des Alltags wie Möbeln und Stoffen bis hin zur Ausgestaltung öffentlicher Räume umfassen sollte. Obwohl die meisten Kritiker den Ansatz guthießen und ihrerseits die Notwendigkeit betonten, dem Handwerk zu neuer künstlerischer Anerkennung zu verhelfen, überwog in den Rezensionen der Gurlitt-Ausstellung der Vorwurf des Epigonalen, im abfälligen Sinn »Kunstgewerblichen«. Als Ausdruck des Widerstands gegen Rationalisierung und Fortschritt stellte die Wertschätzung des manuell Gefertigten um seiner selbst willen
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