Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
quel, ganz wie sie eben sind, ohne nach richtig oder falsch zu fragen. Und tatsächlich: nicht eine Sekunde seiner Zeit hat jemals Casanova mit dem theoretischen Nachdenken über das Problem verloren, diese Welt könnte oder sollte eigentlich anders sein. »Lieben Sie die Menschheit, aber lieben Sie sie so, wie sie ist«, sagte er im Gespräch zu Voltaire. Nur sich nicht einmengen in das fremde Geschäft des Weltschöpfers, der für diese sonderbare Angelegenheit die volle Verantwortung hat, nur nicht den alten Sauerteig aufrühren und sich damit die Hände beschmutzen, sondern viel einfacher: die Rosinen mit flinken Fingern herausklauben. Daß es den Dummköpfen schlecht geht, findet Casanova ganz in der Ordnung, den Klugen wiederum hilft zwar nicht Gott, aber es liegt nur an ihnen, sich selber zu helfen. Ist die Welt schon einmal so vertrackt eingestellt, daß die einen seidenbestrumpft in Karossen fahren und den andern unter ihren zerlumpten Fetzen der Magen kracht, je nun, dann kann für den Vernünftigen nur eine Aufgabe gelten: selber in die Karosse zu kommen.
    Niemals wird er Entrüstung trommeln oder wie weiland Hiob an Gott unziemliche Fragen stellen nach dem Warum und Wieso: jedes Faktum nimmt er – ungeheure Ökonomie des Gefühls! – einfach als faktisch, ohne ihm den Zettel Gut oder Böse anzukleben. Daß die O’Morphi, ein kleines holländisches Dreckmensch von fünfzehn Jahren, heute noch verlaust in ihrem Bett liegt, freudigst bereit, ihre Jungfräulichkeit für zwei kleine Taler zu verkaufen, und dieselbe vierzehn Tage später als Mätresse des Allerchristlichsten Königs ihr Palais im Hirschpark hat, übersät mit Edelsteinen und bald Gemahlin eines gefälligen Barons, oder daß er selbst, gestern noch erbärmlicher Geigenspieler in einer venezianischen Vorstadt, am nächsten Morgen Stiefsohn eines Patriziers wird, Diamanten an den Fingern und ein reicher Jüngling, solche Dinge verzeichnet er als Kuriosa, ohne sich darüber aufzuregen. Mein Gott, so ist eben die Welt, völlig ungerecht und unberechenbar, und eben, weil sie ewig so sein wird, versuche man nicht, irgendein Gravitationsgesetz oder einen komplizierten Mechanismus für diese Rutschbahn zu konstruieren. Man kratze sich mit Nägeln und Fäusten das Beste heraus, voilà toute la sagesse, man sei bloß Philosoph für sich selbst, nicht für die Menschheit, und das heißt in Casanovas Sinn: stark, gierig, unbedenklich und ohne Rücksicht auf die nächste Stunde im Wellenspiel rasch die strömende Sekunde fassen und sie ausschöpfen bis zum letzten Rest. Nur was atmet, Lust mit Lust erwidert, was an die heiße Haut, mit Leidenschaft und Liebkosung antwortend, andrängt, nur dies dünkt diesem entschlossenen Antimetaphysikus wirklich real und interessant.
    So reduziert sich Casanovas Weltneugier einzig auf das Organische, auf den Menschen: keinen Blick hat er vielleicht zeitlebens sinnend emporgehoben zum Sternengewölke, und schon die Natur bleibt ihm völlig indifferent: nie kann dieses eilfertige Herz an ihrer Ruhe und Grandiosität sich entzünden. Man blättere doch einmal die sechzehn Bände seiner Memoiren durch: da reist ein helläugiger, wachsinniger Mensch durch die schönsten Landschaften Europas, vom Posilip bis Toledo, vom Genfer See bis in die russischen Steppen, aber vergeblich wird man eine einzige Zeile der Bewunderung für die Schönheit dieser tausend Landschaften suchen: eine kleine schmutzige Magd im Winkel einer Soldatenspelunke scheint ihm wichtiger als alle Kunstwerke Michelangelos, ein Kartenspiel in schlecht gelüfteter Wirtsstube schöner als ein sorrentinischer Sonnenuntergang. Natur und Architektur, derlei bemerkt Casanova überhaupt nicht, weil ihm das Organ, dank dessen wir kosmisch verbunden sind, weil ihm die Seele vollkommen fehlt. Für ihn heißen Welt einzig die Städte mit ihren Galerien und Promenaden, wo abends die Karossen vorbeirollen, diese dunkel-schaukelnden Nester der schönen Frauen, wo Kaffeehäuser gefällig warten, in denen man eine Pharaobank zum Schaden der Neugierigen auflegen kann, wo Opern und Bordelle locken, in denen man sich rasch neues Nachtfleisch holt, Gasthöfe, in denen Köche in Saucen und Ragouts dichten und mit hellen und dunklen Weinen musizieren. Nur die Städte sind für diesen Lustmenschen Welt, dort wohnen die Frauen in der einzig ihm möglichen Form, in der Vielzahl, in wandelhaftem Plural, und innerhalb der Städte wiederum liebt er am meisten die Hofsphäre, den Luxus,

Weitere Kostenlose Bücher