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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Brulard, der Lucien Leuwen treten ans Licht und damit zum erstenmal der wirkliche Stendhal. Mit Begeisterung erkennen seine wahren Zeitgenossen die brüderliche Seele, denn nicht seinen wirklichen und zeitnahen hatte er sein Werk zugedacht, sondern jenen der kommenden, der nächsten Generation. »Je serai célèbre vers 1880«, steht mehrmals in seinen Büchern, damals ein hilfloses Wort ins Leere, nun eine überraschende Wirklichkeit. Zur gleichen Weltstunde, da sein Leib exhumiert wird aus der Erde, erhebt sich sein Werk aus dem Schatten der Vergänglichkeit: genau bis auf das Jahr hat der sonst so Unglaubwürdige seine Auferstehung verkündet, Dichter immer und in jedem seiner Worte, in diesem einen aber auch Prophet.

Ein Ich und die Welt
    Il ne pouvait plaire, il était trop différent
     
    D ie schöpferische Zwiespältigkeit ist in Henri Beyle bereits von den Eltern hineingeboren; schon in ihnen passen zwei ungleichartige Hälften schlecht zusammen. Chérubin Beyle – man denke bei diesem Vornamen nicht an Mozart, beileibe nicht! – der Vater oder der »bâtard«, wie ihn Henri, sein erbitterter Sohn und Feind, immer boshafterweise nennt, repräsentiert vollumfänglich den zähen, geizigen, hartklugen, ganz zu Geld versteinerten Provinzbourgeois, wie ihn Flaubert und Balzac mit zorniger Faust an die Wand der Literatur geschleudert haben: von ihm erbt Henri Beyle nicht nur die Statur, die massig-fettleibige, sondern auch die egoistische Selbstbesessenheit in Hirn und Blut. Henriette Gagnon, die Mutter dagegen, kommt vom romanischen Süden her und auch psychologisch betrachtet aus Romanen. Sie könnte von Lamartine gedichtet sein oder von Jean-Jacques Rousseau sentimentalisiert: eine zärtlich-musikalische, gefühlsschwelgerische, südsinnliche Natur. Ihr, der Frühverstorbenen, dankt Henri Beyle seine Leidenschaft im Eros, den Überschwang im Gefühl, die schmerzliche und fast weibische Sensibilität der Nerven. Von diesen beiden widersetzlichen Strömungen im Blut unablässig hin und her gerissen, schwankt dies sonderbare Erzeugnis zwiespältiger Charaktere ein Leben lang zwischen Vatererbe und Muttererbe, zwischen Realismus und Romantik: immer wird er darum zwiefältig sein und doppelweltig, der künftige Dichter Henri Beyle.
    Sympathetisch entscheidet sich der kleine Henri schon früh: er liebt die Mutter (ja sogar, wie er selbst zugibt, mit gefährlich passionierter Frühreife leidenschaftlicher Art), er haßt eifersüchtig und verächtlich den »father« mit einem spanisch kalten, zynisch verschlossenen, inquisitorisch nachspürenden Haß: kaum irgendwo findet die Psychoanalyse einen tadelloseren Ödipuskomplex literarisch hingelegt als in den ersten Seiten von Stendhals Selbstbiographie, im »Henri Brulard«. Aber diese vorzeitige Spannung wird jählings durchgerissen, denn die Mutter stirbt dem Siebenjährigen weg, und den Vater betrachtet der Knabe innerlich als gestorben, sobald er, sechzehnjährig, mit der Postkutsche Grenoble verläßt: von diesem Tage an meint er ihn mit Schweigen, mit Haß und Verachtung in sich erledigt und begraben. Jedoch selbst mit Lauge überschüttet, mit Löschkalk von Geringschätzung übergossen, bleibt der zähe, rechenkalte, sachliche Bürgervater Beyle noch fünfzig Jahre lang unter Henry Beyles Haut lebendig und geistert weiter in seinem Blut; fünfzig Jahre schlagen sich die Ahnen seiner beiden Seelenrassen, die Beyles und die Gagnons, der sachliche Geist und der romantische, noch unaufhörlich in ihm herum, ohne daß einer vermöchte, den andern vollkommen unterzukriegen. In einer Minute ist Stendhal seiner Mutter rechter Sohn, in der nächsten, oft in derselben noch, Sohn seines Vaters, bald schüchtern-timid, bald steinhart-ironisch, bald schwärmerisch-romantisch, bald wieder mißtrauisch-rechnerisch – sogar in dem flitzenden Intervall von Sekunde zu Sekunde schießen Heiß und Kalt zischend ineinander. Gefühl überschwemmt die Vernunft, Intellekt wieder staut brüsk die Empfindung. Niemals gehört dieses Gegensatzprodukt ganz der einen, nie ganz der andern Sphäre; und selten sind im ewigen Kriege zwischen Geist und Gefühl schönere Schlachten geschlagen worden als die große psychologische Bataille, die wir Stendhal nennen.
    Gleich vorausgenommen aber sei: keine Entscheidungsschlacht, keine Vernichtungsschlacht. Stendhal ist nicht besiegt worden, nicht zerrissen von seinen Gegensätzen: vor jedem wahrhaft tragischen Schicksal schützt diese epikureische

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