Stefan Zweig - Gesammelte Werke
der zaghaft erste Knospen ansetzende Ruhm einem Mann, den schon »einmal das Nichts gestreift«, an dem der Tod bereits seine Knochenfinger probiert. Müde schlurft der triste Schatten weiter zu seiner Wohnung, kaum aufblickend zu den flinken, funkelnden Equipagen, den müßig schwätzenden Spaziergängern, den raschelnden Kokotten – ein langsam sich fortschiebender schwarzer Fleck Traurigkeit im flirrenden Lichterspiel der abendlich überfüllten Straße.
Plötzlich ein Auflauf, neugieriges Gedränge: der dicke Herr ist knapp vor der Börse zusammengebrochen und liegt nun da, die Augen starr vorgequollen, blau das Gesicht: der zweite, der tödliche Schlag hat ihn gerührt. Man reißt dem schwach Röchelnden den würgenden Kragen ab, trägt ihn in die Pharmazie und dann hinauf in sein kleines Hotelzimmer, das übersät ist mit zahllosen Papieren, Notizen, angefangenen Werken und Tagebuchheften. Und in einem von ihnen steht das sonderbar vorausbewußte Wort: »Ich finde nichts Lächerliches dabei, auf der Straße zu sterben, insofern man es nicht mit Absicht tut.«
1842. Die Kiste.
Eine riesige Holzkiste holpert, billiges Frachtgut, von Civitavecchia quer durch Italien nach Frankreich. Man schleppt sie zu Romain Colomb, Stendhals Vetter und Testamentsvollstrecker, der aus Pietät (denn wer kümmert sich noch um den Verstorbenen, dem die Zeitungen gerade sechs Zeilen Nekrolog zusparten!) eine Gesamtausgabe der Werke dieses Sonderlings herausgeben möchte. Er läßt die Kiste aufhämmern – o Gott, was für Mengen Papier und wie kraus beschrieben mit Chiffren und Geheimzeichen, welcher Wust eines gelangweilten Schreibmenschen! Ein paar der bequemsten und bestgeschriebenen Arbeiten fischt er heraus und kopiert sie, dann ermüdet selbst dieser Getreueste. Auf den Roman »Lucien Leuwen« schreibt er ein resigniertes »Rien à faire«: »nichts damit anzufangen« auch die Selbstbiographie, der »Henri Brulard«, wird als untauglich zurückgestellt, und dabei bleibt es jahrzehntelang. Was nun anfangen mit dem ganzen »fatras«, mit diesem unbrauchbaren Wust, diesem Zettelkram? Colomb packt alles wieder ein in die Kiste und sendet sie zu Crozet, Stendhals Jugendfreund, Crozet schickt sie wieder hinüber in die Bibliothek von Grenoble zur letzten Ruhestatt. Dort werden, gemäß uraltem Bibliotheksbrauch, Zettel mit Zahlen auf jeden Faszikel geklebt, kräftig gestempelt und registriert: Requiescant in pace! Sechzig Foliobände, das Lebenswerk und selbstgestaltete Leben Stendhals, stehen, amtlich versargt, nun in der großen Totenkammer der Bücher und können unbehelligt Staub ansetzen. Denn vier Jahrzehnte fällt es niemand ein, sich die Finger an den schlafenden Folianten zu beschmutzen.
1888, Paris, November.
Das Volk vermehrt sich, die Stadt wuchtet ins Weite, Paris zählt bereits acht Millionen Beine, die aber nicht immer laufen wollen: so plant die Omnibusgesellschaft eine neue Linie nach dem Montmartre. Ein ärgerliches Hindernis liegt leider quer im Wege, der Cimetière, der Montmartrefriedhof; nun, die Technik weiß Rat wider solchen Übelstand, man wird eben einen Brückensteg für die Lebendigen über die Toten hinbauen. Dabei kann man freilich nicht umhin, ein paar Gräber umzugraben, und bei dieser Gelegenheit findet man in der vierten Reihe Nummer elf ein ganz verlassenes und verkommenes Grab mit kurioser Inschrift: »Arrigo Beyle, Milanese, visse, scrisse, amò.« Ein Italiener auf diesem Friedhof? Sonderbare Inschrift, sonderbarer Mann! Zufällig kommt aber irgendeiner vorbei und entsinnt sich, daß es einmal einen französischen Schriftsteller Henri Beyle gab, der so falschmelderisch bestattet sein wollte. Man gründet rasch ein Komitee, sammelt ein bißchen Geld, eine neue Marmortafel für den alten Grabspruch zu kaufen. Und so glänzt plötzlich der verschollene Name wieder über dem vermoderten Leib, 1888, nach sechsundvierzig Jahren der Vergessenheit.
Und kurioser Zufall, im gleichen Jahre, da man sich seines Grabes entsinnt und noch einmal den Leib aus der Tiefe holt, kramt ein junger polnischer Sprachlehrer, Stanislas Stryienski, der, nach Grenoble verschlagen, sich dort maßlos langweilt, einmal in der Bibliothek herum, sieht allerhand alte, verstaubte, handgeschriebene Folianten in der Ecke stehen, fängt darin zu lesen und sie zu dechiffrieren an. Je mehr er liest, um so interessanter wird ihm die Lektüre; er sucht, er findet einen Verleger; das Tagebuch, die Selbstbiographie Henri
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