Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Spruch gerecht sein, den ich sprach keinem zu Willen als der großen Vergeltung.« Und wiederum setzte sich Virata auf die Stufe, die Kläger küßten die Treppe zum Zeichen der Ehrfurcht. Der Gefesselte aber starrte finster in des Richters Blick, der ihm fragend entgegenkam. Da sagte Virata:
»Ich habe dich gerufen, daß du mich zur Milde mahnest und mir helfest wider deine Kläger, doch deine Lippen blieben verschlossen. Ist ein Irrtum in meinem Spruch, so klage vor dem Ewigen mich nicht an, sondern dein Schweigen. Ich wollte dir milde sein.«
Der Gefesselte fuhr auf: »Ich will deine Milde nicht. Was ist deine Milde, die du gibst, gegen das Leben, das du mir nimmst in einem Atemzuge?«
»Ich nehme dir dein Leben nicht.«
»Du nimmst mir mein Leben und nimmst es grausamer, als es die Häuptlinge unseres Stammes tun, den sie den wilden nennen. Warum tötest du mich nicht? Ich habe getötet, Mann gegen Mann, du aber läßt mich einscharren wie ein Aas im Dunkel der Erde, daß ich faule an den Jahren, weil dein Herz feig ist vor dem Blute und dein Eingeweide ohne Kraft. Willkür ist dein Gesetz und Marter dein Spruch. Töte mich, denn ich habe getötet.«
»Ich habe deine Strafe gerecht gemessen…«.
»Gerecht gemessen? Wo aber ist dein Maß, du Richter, nach dem du missest? Wer hat dich gegeißelt, daß du die Geißel kennst, wie zählst du die Jahre spielerisch an den Fingern, als ob sie ein gleiches wären, wie Stunden im Licht und die verschütteten im Dunkel der Erde? Hast du im Kerker gesessen, daß du weißt, wie viele Frühlinge du nimmst von meinen Tagen? Ein Unwissender bist du und kein Gerechter, denn nur wer ihn fühlt, weiß um den Schlag, nicht wer ihn führt; nur wer gelitten hat, darf Leid messen. Schuldige vermißt sich dein Hochmut zu strafen, und bist selbst der Schuldigste aller, denn ich habe im Zorn Leben genommen, im Zwange meiner Leidenschaft, du aber tust kalten Blutes mein Leben von mir und mißt mir ein Maß, das deine Hand nicht gewogen und dessen Wucht sie nie geprüft. Steh weg von der Stufe der Gerechtigkeit, du Richter, daß du nicht herabgleitest! Weh dem, der mißt mit dem Maße der Willkür, weh dem Unwissenden, der meint, er wisse um das Recht. Steh weg von der Stufe, unwissender Richter, und richte nicht lebendige Menschen mit dem Tode deines Wortes!«
Bleich fuhr dem Schreienden Haß vom Munde, und wieder fielen die andern zornig über ihn. Aber Virata wehrte ihnen nochmals, wandte sein Haupt vorbei von dem Wilden und sagte leise: »Ich kann den Spruch nicht zerbrechen, der auf dieser Schwelle getan wird! Möge er ein gerechter gewesen sein.«
Dann ging Virata, indes sie jenen faßten, der sich wehrte in seinen Fesseln. Aber noch einmal hielt der Richter inne und wandte sich zurück: da standen starr und böse ihm des Hingeschleppten Augen entgegen. Und mit einem Schauer fuhr es Virata ins Herz, wie ähnlich sie seines toten Bruders Augen waren in jener Stunde, da er damals von seiner eigenen Hand erschlagen lag im Zelte des Widerkönigs…
An jenem Abend sprach Virata kein Wort mehr zu Menschen. Des Fremden Blick stak in seiner Seele wie ein brennender Pfeil. Und die Seinen hörten ihn die ganze Nacht, Stunde um Stunde, schlaflos auf dem Dache seines Hauses schreiten, bis der Morgen rot zwischen den Palmen aufbrach.
In dem heiligen Teiche des Tempels nahm Virata das Bad der Frühe und betete gen Osten, dann trat er wieder in sein Haus, wählte das gelbe Gewand des Festes, grüßte ernst die Seinen, die staunend und doch ohne Frage sein feierlich Tun betrachteten, und ging allein zu dem Palaste des Königs, der ihm offenstand zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. Virata neigte sich vor dem Könige und berührte den Saum seines Kleides zum Zeichen der Bitte.
Der König sah hell zu ihm nieder und sagte: »Dein Wunsch hat mein Kleid berührt. Er ist erfüllt, ehe du ihm Worte gibst, Virata.«
»Du hast mich zum obersten deiner Richter gesetzt. Sieben Jahre richte ich in deinem Namen und weiß nicht, ob ich recht gerichtet habe. Gönne mir einen Mond lang Stille, damit ich einen Weg zur Wahrheit gehe, und gönne mir, daß ich den Weg verschweige vor dir und allen andern. Ich will eine Tat tun ohne Unrecht und leben ohne Schuld.«
Der König staunte:
»Arm wird mein Reich sein an Gerechtigkeit von diesem Monde zum andern. Doch ich frage dich nicht nach deinem Wege. Möge er dich zur Wahrheit führen.«
Virata küßte die Schwelle zum Zeichen des Dankes, neigte
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