Stefan Zweig - Gesammelte Werke
über den Felsen hausen und andern Göttern dienen. Seine Füße waren wund, so viele Tagereisen hatten sie ihn hergetrieben, und vierfach umschlangen Fesseln seine mächtigen Arme, daß er niemandem Gewalt anhaben konnte, wie es sein Auge drohend verhieß, das zornig rollte unter den verfinsterten Brauen. Sie stellten ihn an die Treppe und warfen den Gebundenen gewaltsam ins Knie vor dem Richter, dann neigten sie sich selbst und hoben die Hände zum Zeichen der Klage.
Virata sah staunend auf die Fremden: »Wer seid ihr, Brüder, die ihr von ferne kommt, und wer ist dieser, den ihr in Fesseln vor mich bringt?«
Es neigte sich der Älteste unter ihnen und sprach:
»Hirten sind wir, Herr, friedlich wohnende im östlichen Lande, dieser aber ist der Böseste des bösen Stammes, ein Untier, das mehr Menschen geschlagen, als Finger sind an seiner Hand. Ein Mann unseres Dorfes hat ihm die Tochter verweigert zum Weibe, weil jene von unfrommen Sitten sind, Hundeesser und Kuhtöter, und sie einem Kaufmann des Tales zur Gattin gegeben. Da ist er in seinem Zorne als Räuber in unsere Herde gefahren, er hat den Vater geschlagen und seine drei Söhne des Nachts, und wann immer ein Mann jenes Mannes Vieh trieb an die Grenzen des Gebirges, hat er ihn getötet. Elf aus unserem Dorfe hat er so vom Leben zum Tode gebracht, bis wir uns zusammentaten und den Bösen jagten wie ein Wild und ihn herbrachten zu dem gerechtesten aller Richter, damit du das Land erlösest von dem Gewalttäter.«
Virata hob das Antlitz dem Gefesselten entgegen:
»Ist es wahr, was jene sprechen?«
»Wer bist du? Bist du der König?«
»Ich bin Virata, sein Diener und der Diener des Rechts, da ich um Sühne sorge für Schuld und das Wahre sondere vom Falschen.«
Der Gefesselte schwieg lange. Dann gab er strengen Blick:
»Wie kannst du wissen, was wahr ist und was falsch, aus der Ferne, da dein Wissen sich nur tränkt von der Rede der Menschen!«
»Gegen ihre Rede möge deine Widerrede streiten, damit ich die Wahrheit erkenne.«
Verächtlich hob der Gefesselte die Brauen:
»Ich streite nicht mit jenen. Wie kannst du wissen, was ich tat, da ich selbst nicht weiß, was meine Hände tun, wenn Zorn über mich fällt. Ich habe recht getan an jenem, der ein Weib verkaufte um Geld, recht getan an seinen Kindern und Knechten. Mögen sie klagen wider mich. Ich verachte sie und ich verachte deinen Spruch.«
Wie ein Sturm fuhr Zorn durch die andern, da sie hörten, daß der Verstockte den gerechten Richter schmähte, und der Knecht des Gerichtes hob den dornigen Stock schon zum Schlage. Aber Virata winkte ihren Zorn nieder und wiederholte noch einmal Frage um Frage. Immer wenn ihm Antwort ward von den Klägern, fragte er von neuem den Gefesselten. Doch der preßte die Zähne in ein böses Lachen zusammen und sprach nur noch einmal:
»Wie willst du die Wahrheit wissen aus den Worten der andern?«
Die Sonne stand steil über ihren Häuptern im Mittag, da Viratas Fragen zu Ende war. Und er erhob sich und wollte, wie es sein Brauch war, heimgehen und den Spruch erst künden am nächsten Tage. Aber die Kläger hoben die Hände. »Herr«, sagten sie, »sieben Tage sind wir gewandert vor dein Antlitz, und sieben Tage heimwärts will unsere Reise. Wir können nicht warten bis morgen, denn das Vieh verdurstet ohne Tränke und der Acker will unseren Pflug. Herr, wir flehen, sprich deinen Spruch!«
Da setzte sich Virata wieder nieder auf die Stufe und sann. Sein Antlitz war gespannt wie das eines, der schwere Last trägt auf seinem Haupte, denn nie war es ihm geschehen, Urteil wider einen zu sprechen, der nicht Gnade erbat und sich wehrte im Wort. Lange sann er, und die Schatten wuchsen auf mit den Stunden. Dann trat er zum Brunnen, wusch Antlitz und Hände in der Kühle des Wassers, damit sein Wort frei sei von der Hitze der Leidenschaft, und sagte: »Möge mein Spruch gerecht sein, den ich spreche. Todschuld hat dieser auf sich geladen, elf Lebendige gejagt aus ihrem warmen Leib in die Welt der Verwandlung. Ein Jahr reift das Leben des Menschen verschlossen im Schoße der Mutter, so sei dieser für jeden, den er getötet, verschlossen ein Jahr im Dunkel der Erde. Und weil er Blut gestoßen elfmal aus der Menschen Leib, sei er elfmal des Jahres gegeißelt, bis das Blut aus ihm springe, damit er zahle mit der Zahl seiner Opfer. Seines Lebens aber sei er nicht gestraft, denn von den Göttern ist das Leben, und nicht darf der Mensch an Göttliches rühren. Möge der
Weitere Kostenlose Bücher