Stefan Zweig - Gesammelte Werke
ungeheure Kette der Vernichtung, die jene feindliche Göttin um die Welt geschlungen, ward ihm offenbar als Gesetz, dagegen das Wissen sich nicht weigern konnte. Doch dies tat wohl, nur als Schauender über diesen Kämpfen zu sein, unteilhaft jeder Schuld am wachsenden Kreise der Vernichtung und Befreiung.
Ein Jahr und manche Monde hatte er keinen Menschen gesehn. Einmal aber geschah es, daß ein Jäger eines Elefanten Spur folgte zur Tränke und vom jenseitigen Ufer seltsames Bild erschaute. Da saß, umleuchtet vom gelben Schimmer des Abends, vor schmaler Hütte ein Weißbart, Vögel nisteten friedlich in seinem Haar, ein Affe schlug mit hellen Schlägen ihm Nüsse vor den Füßen entzwei. Er aber sah auf zu den Wipfeln, wo blau und bunt die Papageien schaukelten, und als er mit einmal die Hand erhob, rauschten sie, eine goldene Wolke, herab und flogen in seine Hände. Dem Jäger aber dünkte, er hätte den Heiligen gesehen, von dem verheißen war, »die Tiere werden zu ihm sprechen mit der Stimme von Menschen, und die Blumen wachsen unter seinen Schritten. Er kann die Sterne pflücken mit den Lippen und weghauchen den Mond mit einem Atem seines Mundes.« Und der Jäger ließ seine Jagd und eilte heimwärts, das Erschaute zu berichten.
Am nächsten Tage schon drängten Neugierige her, das Wunder vom andern Ufer zu erspähen, immer mehr wurden der Erstaunten, bis einer unter ihnen Virata erkannte, den Verschollenen seiner Heimat, der Haus und Erbe gelassen um der großen Gerechtigkeit willen. Weiter flog die Kunde, und sie erreichte den König, der schmerzlich den Getreuen vermißte, und er ließ eine Barke rüsten mit viermal sieben Ruderknechten. Und sie schlugen die Ruder, bis das Boot stromaufwärts kam an die Stelle von Viratas Hütte, dann warfen sie Teppiche vor des Königs Fuß, der dem Weisen entgegenschritt. Es waren aber ein Jahr und sechs Monde, daß Virata die Stimme von Menschen nicht mehr gehört; scheu stand er und zögernd vor seinen Gästen, vergaß die Beugung des Dieners vor dem Gebieter und sagte nur: »Gesegnet sei dein Kommen, mein König.«
Der König umfing ihn:
»Seit Jahren sehe ich deinen Weg entgegengehen der Vollendung, und ich bin gekommen, das Seltene zu schauen, wie ein Gerechter lebt, auf daß ich von ihm lerne.«
Virata neigte sich:
»Mein Wissen ist einzig dies, daß ich verlernte, mit Menschen zu sein, um ledig zu bleiben aller Schuld. Nur sich selbst kann der Einsame belehren. Nicht weiß ich, ob es Weisheit ist, was ich tue, nicht weiß ich, ob es Glück ist, was ich fühle – nichts weiß ich zu raten und nichts zu lehren. Die Weisheit des Einsamen ist eine andere denn die der Welt, das Gesetz der Betrachtung ein anderes denn das der Tat.«
»Aber schon Schauen, wie ein Gerechter lebt, ist Lernen«, antwortete der König. »Seit ich dein Auge gesehn, fühle ich schuldlose Freude. Mehr begehre ich nicht.«
Virata neigte sich abermals. Und abermals umfaßte ihn der König:
»Kann ich dir einen Wunsch erfüllen in meinem Reiche oder ein Wort bringen an die Deinen?«
»Nichts ist mein mehr, mein König, oder alles auf dieser Erde. Ich habe vergessen, daß mir einst ein Haus war unter andern Häusern und Kinder unter andern Kindern. Der Heimatlose hat die Welt, der Abgelöste die Gänze des Lebens, der Schuldlose den Frieden. Ich habe keinen Wunsch, denn schuldlos zu bleiben auf Erden.«
»So lebe wohl und gedenke mein in dieser Andacht.«
»Ich gedenke des Gottes, und so gedenke ich auch dein und aller auf dieser Erde, die sein Teil sind und sein Atem.«
Virata beugte sich. Das Boot des Königs glitt wieder abwärts den Strom, und viele Monde hörte der Einsame keines Menschen Stimme mehr.
Noch einmal hob der Ruhm Viratas die Flügel auf und flog wie ein weißer Falke über das Land. Bis in die fernsten Dörfer und an die Hütten des Meeres ging die Kunde von jenem, der Haus und Erbe gelassen, um das wahre Leben der Andacht zu leben, und die Menschen nannten den Gottfürchtigen mit dem vierten Namen der Tugend, den »Stern der Einsamkeit«. Die Priester rühmten seine Entsagung in den Tempeln und der König vor seinen Dienern; sprach aber ein Richter im Lande einen Spruch, so fügte er bei: »Möge mein Wort gerecht sein, wie jenes Viratas gewesen, der nun dem Gotte lebt und um alle Weisheit weiß.«
Es geschah nun manchmal und immer öfter mit den Jahren, daß ein Mann, wenn er das Unrecht seines Tuns und den dumpfen Sinn seines Lebens erkannte, Haus und Heimat
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