Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Zorn.«
Virata sah sie an. So irr war ihr Auge, daß er meinte, Wahnwitz hätte die Fremde erfaßt. Schon wandte er sich, weiterzugehen, und sagte: »Ich bin nicht der, den du meinst. Ich lebe abseits von den Menschen und trage keines Schicksals Schuld. Dein Auge verkennt mich.«
Aber ihr Haß fuhr hinter ihm her:
»Wohl erkenne ich dich, den alle kennen! Virata bist du, den sie den Stern der Einsamkeit nennen, den sie rühmen mit den vier Namen der Tugend. Aber ich werde dich nicht rühmen, mein Mund wird schreien wider dich, bis er den letzten Richter der Lebendigen erreicht. So komm, da du fragst, und sieh, was du an mir getan.«
Und sie faßte den Erstaunten und riß ihn in das Haus, stieß eine Türe auf zu jenem Raum, der nieder und dunkel war. Und sie zog ihn zur Ecke, wo auf dem Boden etwas auf einer Matte reglos lag. Virata beugte sich nieder, und schauernd fuhr er zurück: ein Knabe lag dort tot, und seine Augen starrten zu ihm auf wie einst die Augen des Bruders in der ewigen Klage. Neben ihm aber schrie, geschüttelt von Schmerz, das Weib: »Der dritte, der letzte war es meines Schoßes, und auch ihn hast du gemordet, du, den sie den Heiligen nennen und den Diener der Götter.«
Und als Virata fragend das Wort aufheben wollte zur Abwehr, riß sie ihn weiter: »Hier, sieh den Webstuhl, den leeren! Hier stand Paratika, mein Mann, des Tages und webte weißes Linnen, kein besserer Weber war im Lande. Von ferne kamen sie und brachten ihm Arbeit, und die Arbeit brachte uns Leben. Hell waren unsere Tage, denn ein Gütiger war Paratika und sein Fleiß ohne Abbruch. Er mied die Verworfenen und mied die Gasse, drei Kinder weckte er meinem Schoß, und wir zogen sie auf, daß sie Männer würden nach seinem Ebenbilde, gütig und gerecht. Da vernahm er – wollte Gott, nie wäre der Fremde gekommen – von einem Jäger, daß einer wäre im Lande, der hätte Haus und Habe gelassen, um einzugehen als Irdischer in den Gott, und hätte ein Haus gebaut mit den Händen. Da wurde der Sinn Paratikas dunkler und dunkler, er sann viel des Abends, und selten sprach er ein Wort. Und eines Nachts, da ich erwachte, war er von meiner Seite gegangen in den Wald, den sie den Wald der Frommen nennen und wo du weiltest, um Gottes gedenk zu sein. Aber da er sein gedachte, vergaß er unser und vergaß, daß wir lebten von seiner Kraft. Armut kam in das Haus, es fehlte den Kindern an Brot, eines starb hin nach dem andern, und heute ist dies, das letzte, gestorben um deinetwillen. Denn du hast ihn verführt. Darum, daß du näher seist dem wahren Wesen des Gottes, sind drei Kinder meines Leibes in die harte Erde gefahren. Wie willst du dies sühnen, Hochmütiger, wenn ich dich anrufe vor dem Richter der Toten und Lebendigen, daß ihr kleiner Leib sich krümmte in tausend Qualen, ehe er verging, indes du Krumen den Vögeln hinwarfst und fern warst von allem Leid? Wie willst du dies sühnen, daß du einen Gerechten verlockt, die Arbeit zu lassen, die ihn nährte und die unschuldigen Knaben, mit dem törichten Wahne, er sei im Abseits näher dem Gott als im lebendigen Leben?«
Virata stand blaß mit bebender Lippe:
»Ich habe dies nicht gewußt, daß ich andern ein Anstoß war. Allein meinte ich zu tun.«
»Wo ist dann deine Weisheit, du Weiser, wenn du dies nicht weißt, was Knaben schon wissen, daß alles Tun von Gott getan ist, daß keiner sich mit Willen ihm entwindet und dem Gesetz der Schuld. Nichts denn ein Hochmütiger bist du gewesen, der du meintest, Herr zu sein deines Tuns und andere zu belehren: was dir Süße war, ist nun meine Bitternis, und dein Leben ist dieses Kindes Tod.«
Virata sann eine Weile. Dann neigte er sich:
»Du sprichst wahr, und ich sehe: immer ist in einem Schmerz mehr Wissen um Wahrheit als in aller Weisen Gelassenheit. Was ich weiß, habe ich gelernt von den Unglücklichen, und was ich schaute, das sah ich durch den Blick der Gequälten, den Blick des ewigen Bruders. Nicht ein Demütiger des Gottes, wie ich meinte, ein Hochmütiger bin ich gewesen: dies weiß ich durch dein Leid, das ich nun leide. Verzeihe mir darum, daß ich es bekenne: ich trage an dir Schuld, und an vielem anderen Schicksal wohl auch, das ich nicht ahne. Denn auch der Untätige tut eine Tat, die ihn schuldig macht auf Erden, auch der Einsame lebt in allen seinen Brüdern. Verzeih mir, Frau. Ich will wiederkehren aus dem Walde, auf daß auch Paratika wiederkehre und neues Leben dir wecke im Schoß für das vergangene.«
Er beugte
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