Stefan Zweig - Gesammelte Werke
erlauchtestes Kunstwerk ist damit Ypern genommen. Niemand wird in Hinkunft mehr, wie wir einstens, hinpilgern in die abseitige Stadt, einzig um, maßvoll und mächtig, dieses herrliche Hallenwerk mit seinen breiten Schultern dastehen zu sehen. Aber für das verlorene Denkmal hat Ypern ein neues gewonnen, und daß ich es gleich voraussage, ein seelisch wie künstlerisch überwältigendes: das Meningate, errichtet von der englischen Nation für ihre Toten, ein Denkmal, so ergreifend wie nur eins auf europäischer Erde.
Auf der Straße, die vormals zum Feinde führte, ist dies riesige Tor errichtet, hoch und marmorhell. Es schattet und deckt ein paar Meter weit die Straße, jene einzige des umschlossenen Ypern, wo in Sonnenbrand und Regen die englischen Regimenter an die Front rückten, wo die Kanonen, die Lazarettwagen, die Munition zugeführt und unzählige Särge heimgekarrt wurden. In schlichten römischen Maßen, mehr Mausoleum als Triumphbogen, wölbt sich das breite Tor. Auf der Vorderseite, der Feindrichtung zugewandt, liegt auf dem First ein Marmorlöwe, die Pranke wuchtig niedergelegt wie auf eine Beute, die er nicht lassen will; auf der Rückseite, der Stadt zugewandt, erhebt sich ernst und schwer ein marmorner Sarkophag. Denn dieses Denkmal gilt den Toten, den sechsundfünfzigtausend englischen Toten bei Ypern, deren Gräber nicht gefunden werden konnten, die irgendwo in einem Massengrabe vermodern, unkenntlich von Granaten zerfetzt, oder im Wasser verfaulten, all jenen, die nicht wie die anderen auf den Friedhöfen rings um die Stadt ihre hellen, weißen, geschliffenen Steine haben, eigenes Wahrzeichen letzter Ruhestatt. Ihnen allen, den Sechsundfünfzigtausend, hat man diesen Marmorbogen als gemeinsames Grabmal gewölbt, und alle diese sechsundfünfzigtausend Namen sind eingegraben mit goldenen Lettern in den marmornen Stein, so viele, so unendlich viele, daß, ähnlich wie auf den Säulen der Alhambra, die Schrift zum Ornamente wird. Ein Denkmal also nicht dem Siege, sondern den Toten, den Opfern dargebracht, ohne jeden Unterschied, den gefallenen Australiern, Engländern, Hindus und Mohammedanern, verewigt in gleichen Maßen und in gleicher Größe, in demselben Stein, für denselben Tod. Kein Bildnis des Königs, keine Erwähnung von Siegen, keine Kniebeuge vor genialen Feldherren, kein Schwatz von Kronprinzen, Erzherzögen, nur lakonisch großartige Stirninschrift: Pro rege, pro patria. In dieser wahrhaft römischen Einfachheit wirkt dieses Grabmal der Sechsundfünfzigtausend erschütternder als alle Triumphbogen und Siegesdenkmäler, die ich jemals gesehen, und diese Erschütterung mehrt sich noch am Anblick der immer wieder neu gehäuften Kränze der Witwen, der Kinder, der Freunde. Denn eine ganze Nation pilgert alljährlich zu dieser gemeinsamen Grabstätte der unbegrabenen und verschollenen Soldaten.
Kirmes über den Toten
Ein Wallfahrtsort der englischen Nation ist Ypern heute geworden. Man kann es verstehen, wenn man diese Tausende und aber Tausende von Gräbern, wenn man diese tragische Stelle der Sechsundfünfzigtausend gesehen. Aber gerade die Fülle des Verkehres gefährdet arg die Ehrfürchtigkeit des Eindruckes, und mitten in der Ergriffenheit wehrt sich das Gefühl gegen die zu gute, zu präzise funktionierende Organisation. Auf dem Marktplatze staut sich ein Autopark wie vor einer Oper, die grünen und gelben und roten Massenautos, diese fahrenden Bassins, schütten stündlich Tausende von Menschen in die Stadt, ganze Touristenarmeen, die mit lautsprechenden Führern die »Sehenswürdigkeiten« (zweihunderttausend Gräber!) betrachten. Für zehn Mark kriegt man alles, den ganzen Krieg von vier Jahren, die Gräber, die großen Kanonen, die zerschossene Stadthalle, mit Lunch oder Diner und allem Komfort und nice strong tea, wie es auf allen Schildern angeschrieben ist. In allen Buden wird mit den Toten kräftig Geschäft gemacht, man bietet Galanteriewaren aus, gefertigt aus Granatsplittern (die vielleicht einem Menschen die Eingeweide zerrissen haben), hübsche Schlachtfeldandenken, deren entsetzlichste Probe ich in einem Schaufenster sah: einen Bronze-Christus, das Kreuz gefertigt aus aufgelesenen Patronen. In den Hotels spielt Musik, die Kaffeehäuser sind voll, auf und nieder sausen die Autos, die Kodakverschlüsse klappern. Trefflich ist alles organisiert, jede Sehenswürdigkeit hat ihre Dutzend Minuten, denn man muß ja spätestens um sieben Uhr in Blankenberghe zurück sein und
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