Stefan Zweig - Gesammelte Werke
ein paar Sätzen rückt er jeden Gegenstand fest und klar ins Licht. Er übertreibt nicht, er passioniert sich nicht; darum haben seine Worte genau wie seine Werke den Wert unbestechlicher und unbezweifelbarer Zeugenschaft. Was ihn nach seiner Rückkehr nach vier oder fünf Jahren am meisten an dem neuen Rußland frappiert, ist das gleiche, was auch uns Fremde so sympathisch bei diesem Volk berührt: die plötzlich aufgebrochene stürmische Gier nach Bildung bis in die untersten Klassen hinein, die Passion für das Schöpferische. Jahrhunderte war hier eines der begabtesten und aufgewecktesten Völker durch den Zarismus und die ihm gefällige Kirche gewaltsam verdumpft und von allen Bildungsmöglichkeiten abgeschnitten worden (das schwerste Verbrechen, das eine Regierung an ihrem Volk begehen kann). Und mit einem bewundernswerten, rapiden Elan hat die ganze Nation, oder haben vielmehr alle jetzt in der Sowjetrepublik vereinigten Republiken die Gelegenheit benutzt, sich vom Analphabetismus zu befreien. Über Nacht sind in den kaukasischen, georgischen, turkestanischen und sibirischen Gebieten Universitäten entstanden, Zeitschriften, Dichterschulen; bis in die winzigsten Dörfer dringen jetzt, dank einer unablässig hämmernden, zwar politisch gemeinten, aber doch bildungswirkenden Organisation, die neugeschaffenen Bauernzeitungen, die vom Volk selbst geschrieben und redigiert werden. »Sie würden nicht glauben«, erzählt mir Gorki, »was für ausgezeichnete Briefe und Schilderungen in diesen populären Zeitschriften, die das Volk selbst schreibt, zutage treten. In ihnen ist oft mehr darstellende Kraft als in allen schulgemäßen Literaturen, und ich bin selbst mit einer ganzen Reihe dieser Schreiber in Korrespondenz geraten, soviel Anregungen und Kenntnisse haben mir ihre urtümlichen Mitteilungen gegeben.« Selbst er, genau wie Dostojewski und Tolstoi von Jugend an gläubig an das russische Volksgenie, ist dennoch erstaunt über das Tempo dieses Bildungsaufschwunges, den innerhalb von wenigen Jahren die untersten Schichten des russischen Volks genommen haben. Und sein neues Buch, an dem er noch arbeitet, wird nicht Dichtung sein, sondern Darstellung seiner Erlebnisse mit dem Volk bei dieser Wiederbegegnung nach Jahr und Jahren. Und ich glaube, gerade dieses Buch wird für Europa von äußerster Wichtigkeit sein, denn das klare Auge Gorkis ist unbestechlich in Urteil und Erkennen, unfähig zu schmeicheln, unwillig zu lügen. Und wenn dieser wahrhaftige Bildner, dieser warmherzige Kenner seines Volkes dann, trotz allen Einschränkungen, im wesentlichen der Leistung der letzten Jahre zustimmt, sollten immerhin manche vorsichtiger sein, von ferne her und, bloß zweideutigen Nachrichten folgend, all das, was in Rußland im letzten Jahrzehnte geschehen ist, einzig als ein hoffnungsloses Chaos und eine wütige Verblendung zu betrachten.
Die jungen Dichter
D ie Regierung hat ihnen ein Haus überlassen, das ehemalige Wohnhaus Alexander Herzens, und sie haben es umgeformt in eine Art Klub, wo sie einander begegnen, Freunde empfangen und bewirten können, lesen und arbeiten. Sie haben daraus gleichzeitig ein kleines Museum gemacht, das alle Bücher der jungen Generation, ihre Manuskripte und Bilder behütet, und ich hatte die Freude, dort ihr gemeinsamer Gast zu sein. Seltsames Gefühl zwischen Vergangenheit und Gegenwart: vor einigen Monaten hatte ich noch in Versailles die achtzigjährige Tochter Alexander Herzens, Madame Monod, besucht und saß nun im staatlich gewordenen Hause ihres Vaters, dessen Standbild längst auf allen Plätzen prangt und Monument der Vergangenheit geworden ist, neben der Enkelin Tolstois, der jungen zarten und auf anmutigste Weise klugen Sophia Tolstoi-Jessenin, der Witwe des großen lyrischen Dichters Jessenin, der, dreißigjährig, vor zwei Jahren auf tragische Art aus dem Leben schied. Ein langer Tisch vereinigt drei Dutzend junger Menschen, keiner über vierzig, die meisten unter dreißig Jahren, und in ihrer Gegenwart fühlt man etwas von der unerhörten Weite und Vielfalt dieses riesigen Reiches. Denn jede Provinz und jedes Volk der Union hat da irgendeinen aus sich herausgeholt. Da ist Boris Pilniak, der berühmte Romanschriftsteller, ein blonder Wolgadeutscher, aber schon so russisch geworden, daß er kein Wort seiner Vorvätersprache mehr versteht, neben ihm Wjesolowod Iwanow, dessen ›Panzerzug‹ als Buch und Drama in Rußland gleich erfolgreich ist, ein heller Sibirier mit rundem
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