Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Kajakengesicht. Da sitzt Grigol Robadkidse, Priestersohn aus Tiflis, der erste georgische Dichter, von dem in nächster Zeit ein sehr heißes und farbenprächtiges Buch in deutscher Sprache erscheint, da Abraham Effros, schwarzbärtiger orientalischer Moskauer, der trefflichste Kenner europäischer Kunst, da Liddin und Kiriloff und der prächtige Holzschneider Kraftchenko und neben ihm die noch unbekannten Dichter der neuen Kultursphären, Estländer, Eurasier, Armenier, Kaukasier, Ukrainer, ein buntes Gemenge, verbunden durch die gleiche Herzlichkeit der Gastfreundschaft und das unbezwingliche Element der Jugend.
Alle oder fast alle diese neuen jungen Dichter kommen aus dem Volke und fühlen sich ihm näher verwandt als die unseren; sie lesen in Soldatenschulen ihre Verse vor, sprechen in Volksversammlungen über Literatur, führen die Bauern durch die Museen. Sie gehen in dem einfachen Rock des Arbeiters, in den weißen Blusen der Bauern, keiner besitzt wahrscheinlich einen Smoking oder einen Frack, keiner von ihnen wohnt bequem und hat nur einen Schatten europäischer Honorare: aber sie genießen dafür das Glück eines weiten Publikums, das spontane Verbundensein mit dem letzten Urgrund ihrer Natur, die Kameradschaft mit jedem und allen. Das ist ein Erlebnis. Jeder von ihnen kennt das Volk, seine Bedürfnisse und seine Gedanken aus eigener Anschauung, die meisten von tätiger Mitarbeit, und mit einem urtümlichen Abenteuertrieb rollen und pilgern sie zigeunerhaft frei von einem zum anderen Ende des russischen Landes. Es ist eine Freude, ihre Gesichter zu sehen, frisch und lebendig, eine Freude, ihre Bücher zu lesen, die überquellen von ganz neuen Kräften: die europäische Literatur wird noch manche Überraschungen von diesem aufsteigenden Rußland erleben.
Theater
S oll man Eulen nach Athen tragen und Kaviar nach Rußland? Soll man wirklich noch einmal erzählen, was das russische Theater selbst in der schwersten Zeit des Überganges geleistet und geschaffen hat? Das alles hat Joseph Gregor mit René Fülöp in seinem trefflichen Werk über die russische Bühne so ausführlich getan, daß ich mir’s ersparen kann. Und schließlich, man kennt einigermaßen Stanislawski, Tairoff und Meyerhold von ihren deutschen Gastspielen. Da bringen sie alles mit, ihre großen Schauspieler, wie Katschalow, Tschechow, Alice Coonen, sie haben längst unserer Generation die Meisterschaft ihrer Regie, ihre neuen schöpferischen Ideen gezeigt. Nur eines können sie nicht mitbringen, was hier so ungemein den Eindruck verstärkt: das Publikum, das neue russische Publikum der sowjetistischen Zeit. Dichtgedrängte Reihen, kein leerer Platz allabendlich, eine einzige festgefügte, einheitliche Masse. Der Unterschied zwischen Parterre, Logen und höchster Galerie restlos aufgelöst, da und dort Arbeiter, Frauen, Fremde, Soldaten und die spärlichen Reste der Exbürgerschaft, alles farblos und vollkommen durcheinander gemischt. Keine steife Hemdbrust, kein harter Kragen, kein Décolleté, kein Smoking, keine schroff brennenden Farben – alles wie mit Sepia überstrichen oder leicht verschleiert. Aber was dieses Bild des Zuschauerraumes an Buntheit verliert, gewinnt es an Einheitlichkeit. Nirgends habe ich das Publikum eines Theaters dermaßen als grauen, metallischen Block, als Meer, als Masse zusammengeschmiedet empfunden, wie dort in den Theatern der verlorengegangenen Eleganz. Gewiß: der Zuschauerraum liegt im Schatten der Gleichgültigkeit und Alltäglichkeit, er wirkt unfestlich, bloß als dicht angefüllter Menschenraum, aber man stelle sich’s vor, wie scharf, wie verwirrend, wie zauberhaft eben darum dann der Kontrast wird, wenn hinter der Rampe die doppelt wirksame Magie, die blendende Vielfalt der Dekorationen auftaucht. Der Luxus, bei uns seßhaft im Parkett und in den Logen, hier ist er hinübergeflüchtet auf die Bühne: da hat er seine letzte Freistatt auf russischer Erde, hier darf er sich – fremd und sagenhaft geworden im wirklichen Leben – als ein Historisches und Kostümhaftes verschwenderisch innerhalb der imaginären Zone entfalten. Hier und hier allein verstattet sich Rußland noch Verschwendung; nicht Amerika, nicht die Pariser Singspielhallen zaubern solche koloristische Pracht her wie ein Ballett in der Leningrader Oper, und nirgends wirkt ihre schwelgerische Traumhaftigkeit feenhafter und unwahrscheinlicher als hier, wo diese Phantasmagorie dem Grau des Täglichen traumhaft gegenübersteht. Wirklich
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