Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wie Niederstieg von oben in verschattete Zonen erlebt man dann die irdisch geschmückte Gestalt, etwa die neue zauberische Tänzerin, die Rußland geschenkt ist, die Semjonowa (der Name wird noch einmal Europa überstrahlen), zwanzig Jahre alt, gerade aus der Ballettschule in Tiflis gekommen und innerhalb eines Jahres schon Zauberin und Herrin der ganzen Stadt; wenn sie mit ihrem festen, elastischen Schritt, der nicht gelernt ist, sondern natürlich wie Saft aus der Rinde quillt, über die Bühne schreitet und im Wildsein eines Überschwanges sich flügelhaft aufwirbelt, dann bricht plötzlich über diesen armen gleichfarbigen, verdüsterten Alltag eine Art Licht herein, das diese Menschen taumeln macht. Und an dem Glück, das sie Millionen spenden, spürt und begreift man, warum alle Künstler hier so leidenschaftlich und hingebungsvoll, so aufopfernd und selbstvergessend dem gemeinsamen Werke dienen, – sie verwalten nach Jahren des Leidens, der Entbehrung und der Ermüdung hier einzig noch die heilige Flamme der Freude. Vielleicht hätte Rußland trotz all seiner Geduld, trotz seiner bewundernswerten Beharrlichkeit diese Epoche der Prüfung auf seiner blutigen und zerschundenen Erde nicht so sieghaft überdauert, hätten nicht seine herrlichen Künstler ihm über seiner allzu normalisierten und mechanisierten Welt die traumhafte und magische der schöpferischen Phantasie für gelöste Stunden aufgebaut.
Tolstoifeier
D as große Theater in Moskau, gewiß das weiteste und außerdem auch eines der schönsten der Welt, riesigen Raum ohne kolossalische Geste bemeisternd, diskret in Tönung, blaßrot mit gespartem Gold – das Ideal einer Festbühne. Im Parkett und auf den Galerien viertausend Personen (Rußland denkt und feiert in anderen Dimensionen als wir) eine geduldig wartende Menge. Um 6 Uhr soll die Feier beginnen, weshalb sie selbstverständlich um 7 Uhr beginnt, ohne daß ein einziges Scharren, eine einzige Unruhe sich regte. Auf der Bühne im runden Oval ein Tisch für das Komitee, in der Mitte Lunatscharski, der Minister und Gebieter der Kunstwelt, straffes energisch geballtes Gesicht über gesunden, grobgehauenen Schultern, neben ihm die Kamenewa, die Schwester Trotzkis, Leiterin der Kulturabteilung, damenhaft und diskret mit einer sehr sanften und ruhigen Stimme, deren Musikalität erst bei der Rede fühlbar wird. Dann der Sohn Tolstois, Sergei, ein stiller grauer Herr, eher Masaryk ähnlich als seinem Vater, dann Delegierte aus allen Reichen und Korporationen des Landes und die ausländischen Gäste.
Als erster tritt Lunatscharski an die Tribüne und spricht (frei wie jeder in Rußland) anderthalb Stunden lang mit der dramatischen Geschultheit eines Agitators. Er trennt wie mit der Messerschneide die Lehre Tolstois vom Dogma des Bolschewismus. Ich kann seiner russischen Rede natürlich nicht folgen, aber ich sehe an seinen hart taktierenden, energisch zustoßenden Fäusten, wie er das Rechts vom Links entschlossen teilt und damit gleich vom Anfang an wie ein Standbild die Stellung der Regierung vor das riesig aufragende Bildnis Tolstois setzt.
Nach ihm spricht Professor Sakulin für die Akademie, ein schöner, würdeeinflößender Graubart, gekleidet in die alte russische Bluse, dann kommen wir an die Reihe – eine schwere Aufgabe für uns, die wir vom Politischen her nicht geschult sind, mit sechs Scheinwerfern in den Pupillen, einem Mikrophon von der Lippe und einem kurbelnden Kinematographen knapp an der Schulter, vor viertausend Personen zu sprechen. Aber wie hilft einem dieses Publikum mit seiner wunderbar lauschenden unvergleichlichen Disziplin, mit dieser immer großartig wartenden, ewig neuen russischen Geduld; schon ist es zwölf Uhr, und seit sechs Uhr sitzen diese Menschen da, nur ab und zu zwischen den Reden durch Musik erfrischt, und keiner der Unersättlichen denkt an Fortgehen und rührt sich von der Stelle – Intellektuelle, Arbeiter, Soldaten, eine einzige dankbar horchende, aufnehmende, das Wort ehrfürchtig in sich eintrinkende Masse.
Am nächsten Tag dann Eröffnung des Tolstoi-Museums und des Tolstoi-Hauses, beide das Angedenken dieses Menschen mit fünfzigtausend Bildern und Erinnerungen noch dokumentarischer vergegenwärtigend als Weimar jenes Goethes. Mit tausend kleinen Nägeln wird seine Physiognomie dem Gedächtnis unverrückbar eingehämmert, man sieht Tolstoi zu Pferde, im Bett, bei der Arbeit, mit der Sichel, beim Spiel und am Pfluge, auf Reisen und daheim mit Kindern
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