Stefan Zweig - Gesammelte Werke
und Enkeln. Man sieht ihn als Knaben, als jungen Mann, als Soldaten, als Greis und Prophet, und nach zwei Stunden dieses Schauens kennt man keinen seiner persönlichen Bekannten in seiner physischen Form so unvergeßlich wie ihn. Mir persönlich machten zwei Kleinigkeiten den stärksten Eindruck: in einer Glasvitrine ein schlichter grober Strick mit einem Brief dazu, von einer fremden Frau ihm zugeschickt, die das Weltverdüsternde und ewig Klagende seiner Bücher nicht ertragen konnte und ihm russisch konsequent diesen Strick ins Haus sandte, er sollte nicht länger sich selbst und damit die Menschheit mit seiner ewigen Unzufriedenheit und Empörung quälen und lieber rasch mit sich ein Ende machen; und ein zweites solches erschütterndes Lebensdokument, ein gestempeltes amtliches Papier, ein Frachtbrief, peinlich, sorglich ausgefüllt. Adressat: Familie Tolstoi. Beschreibung der Verpackung: Kiste. Inhalt: Eine Leiche. So hat das offizielle Rußland die welthistorische Überführung der Leiche Leo Tolstois von seinem Sterbeort Astapowo zur letzten Heimkehr nach Jasnaja Poljana verewigt. Grausame Ironie – die Nichtigkeit alles Geistes vor dem amtlichen Blick, erschütternd durch seine Stupidität; das phantastischste Denkmal unseres irrsinnig wütenden Bürokratismus, das ich jemals gesehen.
Aber all dies ist nur Vorspiel und Vorklang, denn nicht in Rede und Schrift läßt sich die Erinnerung dieses Lebensbildes vollkommen erfassen, nicht in Photographien und Phonographen, nicht in künstlich geräumten und geordneten Museen, sondern erst am wahren Orte, wo er wurzelte, wo er geboren ward, wo er am längsten lebte und am meisten litt: in seinem Hause in Jasnaja Poljana.
Jasnaja Poljana
N achtfahrt ins flache Land. Am frühen Morgen Tula und dann mit linden Wiesen, kleinen fülligen Wäldchen dieses eine winzige Dorf, berühmt unter Hunderttausenden Rußlands: Jasnaja Poljana.
Alexandra Lwowna, die jüngste Tochter Tolstois, empfängt uns und führt erklärend zuerst in die Dorfschule, wo heute ein Denkmal Leo Tolstois enthüllt werden soll. Vom Vater hat sie die massive Gesundheit, die breite, wuchtige Vitalität, die beinahe bäuerliche Festigkeit und die ungebändigte Arbeitsenergie; sie hat nicht früher gerastet, als bis diese Schule, die ihr Vater vor sechzig Jahren in einer Dorfscheune begonnen, nun blank und neu aufgebaut ward in steinernen Mauern, das schönste Monument seines pädagogischen Willens, Sammelpunkt seiner Lehre. Das ganze Dorf ist versammelt, uralte Bauern mit langem, glattgestrichenem Haar und vereisten Bärten: wie herausgeschnitten aus Ikonen sehen sie aus, die meisten haben Leo Tolstoi noch selbst gekannt, einige sind darunter, die, weil sie seinen Lehren gehorcht, in den Gefängnissen gesessen haben und nach Sibirien gewandert sind. Neben ihnen junge Schüler in weißen Blusen, mit hellen, neugierigen Augen und grüßend, junge Mädchen, die ihre Kostüme schon bereithalten, um abends beim Bauerntanz die ländlichen Lieder den Gästen vorzuführen. Bei der Eröffnung gibt es einen schönen, starken Augenblick, wie Alexandra Lwowna sich erhebt und erklärt, in dieser Schule, die ihr Vater gegründet, dürfe niemals Militarismus und Atheismus gelehrt werden; dem widerspricht auch Lunatscharski nicht im Namen der Regierung, obwohl er nochmals mit seiner hämmernden, harten Energie den aktivistischen Standpunkt seiner Anschauung gegenüber dem passiv christlichen Tolstois energisch betont.
Dann zu Fuß, bis an die Knöchel einsinkend, nein, bis an die Knie, durch den fetten Lehm einer unergründlichen russischen Dorfstraße hin zum Schloß. Aber ist es wirklich ein Schloß? Beinahe lächelt man, wenn man sich der selbstanklägerischen Übertreibung Tolstois erinnert, der in seiner Bußhypertrophie immer ausschrie, er lebe »im Luxus«, er bewohne ein fürstliches Haus. Denn wie unschloßhaft ist dieser niedere, weißgetünchte Ziegelbau mit seinem kleinen Gärtchen, mitten im Walde, wie einfach und primitiv die Einrichtung. Der Frankfurter Kaufmannssohn Goethe, der schuldengehetzte Schreiber Balzac, sie haben in Weimar und Passy wie die Fürsten gewohnt im Vergleich zu diesen niederen, kahlen, mit billigem und oft zufälligem Kram gefüllten Gelassen. Knarrende Holzstiegen führen hinauf zu den Zimmern mit ihren schlecht gebohnten Weißholzdielen, der Schlafraum zeigt schmale, fast militärische Eisenbetten mit einfachsten Leinendecken, das Speisezimmer billige Thonet-Möbel oder
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