Stefan Zweig - Gesammelte Werke
dorfgezimmerte Ware, abends nur von Petroleumlampen mühselig erhellt. Kein einziger Gegenstand von Wert und wirklicher Kostbarkeit; an den Wänden verblaßte, schlecht gerahmte Photographien, auf den Gestellen Broschüren und kaum geordnete Bücher, kunterbunt auf dem Schreibtisch eine Grammophonwalze, die ihm Edison schickte, und ein gehämmerter Stein, den die Fabrikarbeiter ihm schenkten am Tage, als er aus der russischen Kirche austrat – eine wahrhaft spartanische Einfachheit, ohne das geringste Bemühen nach Bequemlichkeit und Fülle des Daseins. Eine Wachstuchottomane in seinem Arbeitszimmer als einzige Stelle der Rast, sie ist gleichzeitig das Bett, auf dem Tolstoi selbst und alle seine Kinder geboren wurden, dann ein Schachbrett und ein Klavier als einzige Zeichen der Ablenkung und geistiger Entlastung. Drückend und grau, wie sein eigenes Werk, und doch erschütternd durch seinen heroischen Ernst mutet es an, dieses triste, einstöckige Haus, nur die Fülle der Erinnerungen belebt es, einzig nur das Erinnern an seine fortgegangene Gestalt. Denn jedes winzige Ding hat noch seelisches Gewicht von seiner Legende. Hier vor dem Hause steht noch riesenhaft gewölbt, mit der kleinen Klingel daran, der »Baum der Armen«, wo alltäglich die Pilger und Bauern nachmittags den großen Dichter erwarteten. Hier im Arbeitsgemach unten im Kellerraum (in dem kein europäischer Schriftsteller heute seine Dienstboten wohnen ließe) steckt noch der Nagel in der Wand, an dem Tolstoi sich im Jahre der Krise erhängen wollte. Und mit unendlicher Ehrfurcht betrachtet man die nun welthistorisch gewordene Treppe vor dem engen Schlafraum, die der Dreiundachtzigjährige um vier Uhr morgens, plötzlich aufgerissen von seinem übermächtigen Gewissen, hinablief in den Stall, um seiner Heimat, seiner Familie zu entflüchten in seinen einzig heroischen Tod: hier atmet man Geschichte eines Gewaltigen in der Luft seines Lebens, und das Unvergängliche seines Werkes macht all die kleinen Vergänglichkeiten seines Heimes und seiner Hausung der aufgerüttelten Seele erschütternd und groß.
Ausflug nach Leningrad
D iese zweite Hauptstadt Rußlands bedeutet nicht Ergänzung Moskaus, sondern ihr Widerspiel. So willkürlich entstanden aus Zufall und Volksansammlung Moskau, so zielhaft und willensmächtig, so planhaft und kategorisch gestaltet wirkt die alte Zarenstadt; jene aus eigenem Antrieb gewachsen, diese von einem plötzlichen despotischen Willen diktiert, jene nach Asien blickend bis in die fernen Horizonte der Tatarei und Chinas, diese nach Europa. Nichts hier von dem architektonischen Durcheinander, das in Moskau alle Stile und Kostüme der Baukunst in einen steinernen Maskenball zusammengedrängt, nein, man spürt es sofort, hier hat ein einziger autokratischer Wille eine Stadt plötzlich gewollt und genau in die Vision seines Willens gestaltet, ihr Herr und Ahnherr, Peter der Große. Sein Vorbild war Amsterdam. Aber mit dem Vorgefühl der russischen Weltweite hat er vor dreihundert Jahren schon die Dimensionen ins Amerikanische gesteigert; wo dort schmale Grachten, strömen hier breite Kanäle, wo dort europäische Straßen, spannen sich hier prunkvolle Boulevards und riesenhafte radiale Plätze. Die russische Raumverschwendung, hier hat sie sich im harten Stein einmal sinnlich ausleben können, und nach drei Jahrhunderten erscheinen unserem durch New York und das napoleonische Paris doch schon ans Kolossalische gewohnten Blick diese Marmorbauten und Fronten, diese platzbreiten Avenuen noch immer monumental. Kein europäischer Herrscher hat sich ein solches Haus gebaut wie das Winterpalais, rechts flankiert von der stumm strömenden Newa, links großartig isoliert durch den runden Kolonnadenplatz, dessen Maße dem mächtigsten Gebäude dieser Erde, der Peterskirche, entnommen scheinen; und wie bedauert man, es nicht zur Zarenzeit noch gesehen zu haben, wenn tausend Karossen mit bepelzten Dienern sich hier aneinanderreihten, klirrende Regimenter mit dem Farbenspiel der Uniformen ihre Paraden entfalteten! Aber gleich phantastisch auch der Tag, wo die bewaffnete Arbeiterschaft, aus den Elendsquartieren zusammengerottet, trotz Maschinengewehrfeuer in diese Kolonnaden einbrach, während gleichzeitig das aufrührerische Kriegsschiff ›Aurora‹ mit gebleckten Kanonen die Fenster des Winterpalais visierte, wo, von beiden Seiten mit eherner Zange gepackt, das tausendjährige Zarentum wie eine Nuß zerknackte. Gerade hier, an jener
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