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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Sinnvollen Sinnlose ist ihre Magie. Etwas blumenhaft Unnützes ist in ihnen, die das Oberste, das ganz Zarte und Flaumige der Dichtung sind, hoch und unberührbar vom Erdhaft-Trüben des tatsächlichen Lebens.
    Seltsam, wie spät sich unsere deutsche Welt auf diesen ihren kostbaren Besitz besann, ähnlich spät, wie wir jeder selbst in unserem eigenen Leben. Längst hatte man schon Bilder gesammelt, Bücher, Münzen, Fächer, Tabaksdosen und Handschriften, als man diese Märchen noch achtlos frei von Mund zu Mund flattern ließ, ohne sie im geschriebenen Wort zu fangen. Zwischen der Frühzeit der deutschen Dichtung und der heutigen ihrer stärksten Bewußtheit, die sie als erlesenste Schätze der Kunst wertet, stehen eben auch solche eitle selbstbewußte Flegeljahre, die jede Volksdichtung wie eine allzu breithüftige, rotbackige Schönheit verachteten und denen das Märchen bloß Altweibergeschwätz war. Die Gelehrten erst gewannen sie uns wieder zurück, die Brüder Grimm, die sie zum erstenmal sammelten und denen jetzt eine köstliche Nachlese gefolgt ist: ›Deutsche Märchen seit Grimm‹ und die wiederum nur ein Band eines gewaltigen Unternehmen sein sollen, in dem der tapfere Verleger Eugen Diederichs (den zu rühmen ich nie eine Gelegenheit versäumen möchte) alle Märchen der Vorzeit uns vereinen will.
    Wie wundervoll leicht doch dieser Band ist, wie gewichtlos für die Vielfalt seines Inhalts! Nie wußte ich, eine wie große Freude es sein könnte, Märchen zu lesen als Erwachsener, jetzt, da man sie abends zur Hand nehmen kann ohne die Beängstigung des Kindes, daß Heinzelmännchen wahrhaft unter dem Bett knistern und aus dem Dunkel dann die Riesen in die Träume gestapft kommen und die Menschenfresser. Täglich lese ich nun darin, nicht zu lange freilich, um mir den Genuß zu versparen, nicht so glühend vielleicht auch wie einst, weil mir die Angst fehlt, das Gruseln und Grausen, aber immer neu entzückt von ihrer Unbeschwertheit, ihrem seligen Flug. Unendlich einfach scheinen sie im Vergleich mit der Literatur und sind doch voll Geheimnis, regellos bieten sie sich dar und gehorchen doch unbewußt großen Gesetzen. Eine ganze Wissenschaft, die Märchenforschung, steht erst am Anfang, sie zu enträtseln, ihre folkloristischen Beziehungen zu deuten, ihre Zusammenhänge mit vergangenen Religionen, mit mythischen und erotischen Symbolen wieder aufzulösen. Denn diese kleinen Märchen kommen ja, vergessen wir’s nicht, von ganz fern in unsere Zeit, aus einer Urwelt, in der noch alles Geheimnis war und das fromme Staunen im Menschen das lebendigste Gefühl. Sie, diese kleinen Geschichten, die wie eben improvisiert scheinen, wandern seit Jahrhunderten schon durch tausend Geschlechter und sind jede älter als der älteste Baum im ältesten Wald. Vom welken Mund eines greisen Mütterchens hat sie eben der Forscher vielleicht gepflückt, aber der gab es die ihre und wieder die ihre bis weit hinauf in die Zeiten, da noch Odin und Thor durch die deutschen Forste fuhren. Eine unsichtbar unendliche Kette der Worte gehen diese Geschichten durch die Zeit, immer wieder von einem Erzähler an einen Lauscher gegeben, manch einer hat ihr ein Ringlein eingefügt, und manch einer ließ wieder eines entgleiten, aber im Wesenhaften sind sie ererbt wie Erde und Scholle, wie der ganze geistige Besitz eines Volkes, wie das Zeichen des Kreuzes, wie kleiner Aberglaube, wie die Sprache selbst und jedes deutsche Wort. Auf allen Straßen der Erde sind sie unsichtbar gegangen, an alle Wände haben sie geklungen, uralt sind sie, die so jung, so eben erst aufgeblüht scheinen. Und kein Wunder, das sie erfabeln, ist vielleicht so erstaunlich als das ihrer eigenen, ganz ins Unendliche hinaus verbreiterten Existenz. Denn das gleiche Märchen, das im deutschen Dorf eine Mutter dem horchenden Kinde erzählt, murmelt drüben im Feuerland ein bemalter Greis vor den heimkehrenden Kriegern, der blinde arabische Märchenerzähler singt es am Platz vor der Kasbah, Indien und China ist es vertraut. Der Gott all dieser Menschen ist ein anderer, die Sprache, die sie reden, reicht nicht mit den letzten Wurzeln mehr eine zur andern, der Himmel, unter dem sie wohnen, die Erde, die sie treten, Form und Farbe ihres Körpers ist andersgestaltig, aber das kleine Märchen, das sie erzählen, ist allorts das gleiche. Keinem fliehenden Zauberpferd dieser kleinen Legenden, keinem sausenden Pfeil wäre so schwer nachzusetzen als diesen kleinen Märchen, wollte

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