Stefan Zweig - Gesammelte Werke
und springt freudig den Kindern in den Korb. Im Märchen darf jeder die Eigenschaft des anderen sich borgen, alles ist allen gemein, und unsere Welt, die wir so mühsam mit den Sinnen in Vorstellungen einzeln abteilten, gerät da mächtig ins Gleiten, schwindlig vom Wirbel der Verwandlungen, »die Welt wird Traum, der Traum wird Welt«, wie Novalis im ›Ofterdingen‹ das Gefühl des Märchenhaften mit der ihm eigentümlich visionären Kraft in eine Zeile raffte. Nichts ist mehr wahr und Welt in ihnen und doch alles, solange wir es glauben, und jede dieser kurzlebigen Lügen ist nun schon Jahrhunderte alt. Das ist ihr geheimnisvoller Doppelsinn, kurz zu sein im Trug und doch unendlich lang, denn das Märchen, das mich in dieser Sekunde losließ, wieder zurück in meine Welt, und nun selbst versunken ist, morgen fängt es einen andern wieder und so weiter, vielleicht in alle Ewigkeit.
Aber ewig, sind sie’s wirklich, diese kleinen Märchen? Ewig: leicht schwingt sich das Wort vom Mund, aber doch, schreibt man es dann hin, so sehen einen die vier Buchstaben drohend an. Zu schwer lastet das Wort auf diesen holden schmetterlingsleichten Traumgespinsten. Denn mögen sie selbst wie die Lust an der Lüge, die Magie des Traumes und die unendliche Neugier über den nahen Tag hinaus unzerstörbar sein, etwas in ihnen scheint leise welk zu werden, zu verblühen für den Menschen der Stadt. Nichts von ihnen selbst: aber ihre Welt. Denn das Märchen ist aus dem Wald gewachsen und geschwisterlich der Natur, und wie viele von heute sind ihr schon fremd! Wie viel Kinder gibt es schon, die nie allein durch einen finstern Wald gegangen, die falschen Augen des Irrlichts nie schauernd geseh’n und die geisternden Nebel des Abhanges. Ein wenig blaß sind viele dieser Schrecknisse geworden, Wolf und Bär, die schlimmen Gesellen, wir kennen sie nurmehr hinter Riegel und Gitter als gefesseltes Tier, Spindel und Kunkel, Armbrust und Felleisen, sie sind uns Begriff bloß, kaum mehr gewärtig im Bild, und die Königssöhne, sie tragen keine Kronen mehr. Immer weiter wandert das Märchen weg von unserer Welt, seine Schrecken sind zahm, seine Wunder – der Flug durch die Luft, die Stimme übers Meer – von der Technik ins Alltägliche niedergerissen. Zu viel Träume hat unsere Zeit, die Wunder zerstörende, schon zu Wirklichkeiten niedergerissen, und sie, die selbst so viele Wunder neu ersinnt, wird sich auch das Märchen neu ersinnen müssen, denn zwischen uns und die alten Märchen schiebt sich die lärmende Stadt, die Eisenbahn saust durch ihre Wälder und überschreit die Stimme der Elfen und der Tiere freundlich Gespräch. Seltsam: sie, die doch ganz Natur sind, muten manchmal schon ein wenig künstlich an, im geschlossenen Zimmer, mitten in der Großstadt gelesen, exotisch scheinen sie, weil sie das ganz Primitive bedeuten. Erst die Natur, ein Blick in den Wald, über die Berge machen sie wieder ganz rein und wahr. Denn wo Natur ist, waltet auch das Wunderbare, und ihre eigene Unbegreiflichkeit beglaubigt die verwegenste Träumerei.
Goethes Leben im Gedicht
Zum 28. August 1916
I ns furchtbar Gemeinsame verkettet, ist dem einzelnen für weniges jetzt die Seele ganz frei; der innere Tag, fast jedem ist er genommen vom äußeren Zwang, das gewohnte Tun dem liebsten Wunsch entfremdet und selbst dem Gefühl der reine Ausdruck verwehrt. Freude aus sich hochschweben zu lassen, wie geht es heute an, da der Blick sich umflort an der nahen Tragik einer selbstmörderischen Welt, und der Zorn wiederum, ihm ist das Wort verweigert und der Erbitterung die Sprache erwürgt. Gefangen im stählernen Netz der Zeit sind die Gefühle. In allem ist die Seele behindert und beschränkt, und nur einer Regung vermag sie sich freizuhalten, aber der besten vielleicht: der Dankbarkeit. Wenn jetzt zwischen den gepreßten Stunden eine noch klar und rein herüberglänzt in das Chaos des Geschehens, ihr dankbar zu sein, ist noch verstattet, und sie, die seltene, zu genießen, wird Pflicht und Rettung zugleich.
Solche, jetzt siebenfach kostbare Stunden danke ich einem kleinen Buch, das kürzlich den Weg zu mir gefunden hat und das ich seitdem noch nicht aus meinem Leben ließ. Immer ist es bei mir, denn seine zwei biegsamen Lederbändchen, die auf Dünndruckpapier anderthalbtausend Seiten ohne Zwang zusammenpressen, schmiegen sich leicht der Tasche ein; immer sind sie da, wenn der Wunsch nach ihnen greift, in der Straßenbahn oder auf einem Spaziergang, immer
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