Stefan Zweig - Gesammelte Werke
man sie überall aufspüren, wo sie sich eingenistet haben in die Phantasie der Völker. Und innen in ihnen ist wieder Geheimnis, denn wer vermochte es bis jetzt zu deuten, warum bestimmte Zahlen, drei und sieben, immer in ihnen wiederkehren? Hier spürt man scheu irgendwelche letzte mystische Symbole der Menschheit, spürt sie stärker in diesen einfältigen kleinen Märchen als irgendwo in den verstricktesten Beziehungen unserer gegenwärtigen geistigen Welt.
Nur genießen darf man sie darum und muß verzichten, sie zu erklären. Nie wird man es vermögen, ihre Dichter zu nennen, denn sie reichen, diese kleinen naiven Sinnspiele, zurück bis in die frommen Zeiten, da jeder ein Dichter war oder keiner. Gelegentlicher Trieb und keine höhere Absicht warf sie in die Welt, sie sind ersonnen, vielleicht ein Kind, ein armes, zu trösten oder ein schreiendes zu schrecken, eine Wanderung zu kürzen oder einen Winterabend um seine lastende Länge zu betrügen. Nicht besonnener zielbewußter Sinn hat sie gedichtet, sondern der unstet schweifende, der müßige Traum. Und so seltsam es klingt, ich glaube, diese einfachen, weisen und lieben Märchen sind eigentlich von den schlimmen Eigenschaften des Lebens erdacht, nicht der Mutige, der Starke, der Tätige haben sie gestaltet – denn all diesen ist die Wirklichkeit schon Welt genug –, sondern der Träumer, der Ofenhocker, der Listige, der Lügner und der Bramarbas, immer einer also, der nicht frei und schaffend mitten im Leben stand. Das glaube ich, weil in diesen Märchen so viel Trost ist für den Müßigen, den Unbesorgten, den Träumer und Tagedieb. Denn im Leben, im wirklichen, ist’s doch der Starke, der alles errafft, der Kluge, der viel gewinnt, der Flinke, der allen voraus ist. Wär’s nun nicht natürlich, daß alle, die rückwärts blieben, aus Trägheit und Schwäche sich diese andere Welt ersannen, die von rückwärts nach vorne schwingt, in der immer der Eilfertige zu spät kommt, der Dumme reich wird und der kluge Teufel geprellt? Traum und Trost aller vom Leben ausgeschalteten (und der Kinder darum so sehr) sind diese kleinen Märchen im Grunde, mögen sie noch so lehrhaft sich gebärden. Der Faulpelz sielt im Bett, die bösen Gesellen stecken, ihn zu schrecken, einen Topf mit kalten schwarzen Molchen ihm unter die Decke, aber wie er sie unversehens angreift, ist ein Zauber gebrochen, der Topf voll blanken Goldes und im Schlaf der Faule reich geworden. Der Dumme wieder verkauft Hof und Heim für eine kleine Haselgerte, aber sieh’, jede Tür öffnet sie ihm, und der König kann seine Schatzkammer nicht mehr hüten. Der feige Soldat rennt aus der Schlacht und kriecht in ein Mauseloch, aber ach, es weitet sich zum Gang tief in die Erde hinab, und dort sind Kammern gespeichert mit Gold und Edelstein, und in der letzten steht die Königstochter und ist wunderschön und hat auf ihn gewartet, und sie machen Hochzeit und leben selig bis an ihr seliges Ende.
Die schöne Königstochter und der junge Königssohn, sie warten ja immer mit ihrem goldenen Krönlein im blonden Haar am Ausgang eines jeden Märchens, um den armen Schäfer oder die einfältige Dirn’ zu frei’n. In Liebe und beim Hochzeitsschmaus endet’s fast immer, denn Märchen, was sind sie anders als die entlaufenen Träume der Nacht oder müßige Wünsche des Tages, und Traum und Wunsch doch wieder eines, wie Freud, der graubärtige weise Magier unsrer inneren Welt gelehrt. Sehnsucht der Erlebnislosen, Trost der Unbefriedigten, Opium der Armen sind sie und darum vorerst Seligkeit der Kinder, die ganz lichterloh brennen vor Sehnsucht und sich immer außen fühlen. Für sie ist diese Märchenwelt ein wahrhaftes Sein, uns entzückt sie als ein wesenloses Verwandeln, denn wir erkennen, daß in ihr nichts wahr und beständig ist, als die wunderbare Bewegung, mit der hier alle Gebiete des Lebens durcheinanderfluten, der letzte Tausch aller Formen, die – Natur und Mensch, Tier und Geist – sich wechselnd mit ihren Eigenschaften beschenken. Hier hält kein Wesen, kein Stand, kein Geschlecht karg wie im Wirklichen seine Eigenschaften sich eigenwillig zurück, das Märchen borgt einem das andere, Tiere haben die Stimme von Menschen und sie wieder von den Vögeln den Flug, der Hase wird Maus, die Maus wieder Sperling, Gestalt ist nicht Besitz, sondern Erborgtes, zurückzugeben und frei zu vertauschen. Der Himmel schneit Zuckerbrot, die Mühle reibt Dukaten, das Spinnrad plaudert, der Pfannkuchen lacht
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