Stefan Zweig - Gesammelte Werke
und überall fügen sie sich leicht der tastenden Hand und schlagen sich spendend auf vor dem inneren Blick. Dem ich diese treuen Begleiter im Letzten danke, ihn, der diese wunderbare, ganz einzig handliche Ausgabe der deutschen Klassiker durch seine Initiative und Generosität schuf, ihn findet freilich mein Dank nicht mehr; Alfred Walter Heymel, den Begründer der Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker, hat der Tod in Flandern vom Sattel gehoben, und auch er, dessen Werk in dieser neuen Form ich in diesen Tagen wie zum erstenmal genieße, auch er, Goethe, ist irdischem Danke entrückt. Der Anlaß ist ins allgemeine zurückgefallen, und so dankt in mir das Gefühl nur dem eigenen Erlebnis.
Nun habe ich’s schon gesagt, daß ich der Neuausgabe von Goethes Gedichten in dieser entzückenden Taschenform seltene und nun siebenfach seltene Freude schulde, aber keineswegs möchte ich’s vordringlich als sonderliche und persönliche Entdeckung rühmen, daß Goethesche Gedichte, wann immer sie wieder einem sich auftun, unendliche Tröstung schaffen, noch mich vermessen, von ihnen etwas Neues und Bedeutsames rühmen zu können. Sie anzupreisen, Goethes Gedichte, tut wahrlich nicht not, dann wer kennt sie nicht? Im flüchtigsten Wort des Gespräches eines jeden von uns ist viel von ihnen geheimnisvoll unbewußt als geprägtes Wort lebendig, Sprichwort und Rede sind getränkt von ihrem Saft, Schrift und Satzbild trächtig von ihren lebendigen Kräften. Mit dem Buchstaben, mit dem Alphabet fast schon lernt der Deutsche sie sich ein, denn schon aus der viereckigen Fibel, die man noch mit kleinen Händen vor dem ungeübten Blick hob, buchstabierte man sich die ersten heraus, das ›Heideröslein‹ etwa oder ›Gefunden‹. Aufsteigend in der Schule, ist man anderen Versen dann vertraut geworden, hat manche selbst vor dem Katheder unsicher und als etwas unwillig Gelerntes gestammelt, hat diese Balladen später vielleicht, getragen vom flügelnden Schlag der Stimme Kainzens, in sich eingeklungen, andere wieder – und von Jahr zu Jahr andere – sich selbst entdeckt beim Schein einer abendlichen Leuchte oder auf einem Gang übers Feld. So allgemein bekannt und vertraut sind sie dem Deutschen Goethes Gedichte, daß der Begriff der Bildung fast bestimmt ist und gebunden an ihre Kenntnis – und doch, und doch, wie konnte es geschehen, daß sie mir diesmal neu wurden, ohne mir je fremd gewesen zu sein, daß ich sie wieder las in dieser Ausgabe wie zum erstenmal und ihnen dankte wie vielleicht nie zuvor? Was hat sie, die immer schon Seelenhaften, nun so seltsam neubeseelt, daß ihr altgewohnter Besitz sich nochmals zurückverwandeln konnte in ein wie erstes Erleben?
Nur ein Geringes ist in dieser neuen Gesamtausgabe anders als in allen bisherigen, nichts ist verwandelt in Gewicht und Gehalt, nur die Form ist leicht gewandelt und – da der Sinn an Formen hängt – mit ihr auch der innere Sinn. Eine kleine Verschiebung, eine anscheinend ganz unbeträchtliche, eine philologische Umstellung ist vorgenommen, aber so wie im Kaleidoskop ein kleiner Ruck genügt, um das farbige Glasmosaik in ein ganz neues Ornament zusammenrieseln zu lassen, so hat hier in dieser neuen Anordnung der kleine Ruck einer liebevoll gewandten Hand den Sinn des Ganzen wesenhaft verwandelt. Bisher waren fast alle Ausgaben entweder Auswahlen, deren Lese und Ordnung der Geschmack und die persönliche Absicht des Wählenden bestimmte, oder sie ordneten sich als Gesamtausgaben jener Gruppierung der Ausgabe letzter Hand nach, die im wesentlichen noch von Goethe selbst herstammt. Dort war die gewaltige Zahl der Gedichte um einzelne Kreise, einzelne Begriffe methodisch gereiht, deren Überschriften »Natur«, »Kunst«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« Goethe selbst mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie ein Blumenstrauß waren dort die Verse zusammengebunden um einen inneren Begriff, das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. Hier nun ist die künstlerische Einordnung zerstört, um der Übersicht willen das Organische nicht der Kunst, sondern des Lebens erstrebt. Zum erstenmal in einer Gesamtausgabe erscheinen hier Goethes Gedichte chronologisch geordnet, einzig gereiht nach dem bunt-bedeutsamen Durcheinander ihrer Entstehung. Die kunstvollen Blumensträuße sind wieder aufgebunden und von sorglicher Hand jede einzelne wieder eingesenkt in das Erdreich, in die Landschaft seines
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