Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Ich segelte mit ihm im Sturm, scheiterte an der Insel, sah schaudernd die nackte Fußspur im Sand, fand Freitag, den braunen Genossen, bis endlich – die zwanzig Jahre lebte ich mit ihm in einer Stunde – das weiße Segel erschien und wir heimkehren durften in unsere Welt. Auch hier empfand ich den gleichen wohltätigen Genuß, einen dichterischen Zwang, der ohne alle schmerzhafte Gewalt die Seele frei ließ und nur die Sinne beschäftigte. Schwer und lastend schienen mir all die Bücher unserer Zeit im Vergleich zu diesem mühelos schweifenden Wandern, und undankbar dünkte ich mir selbst, Bücher, denen ich in Knabenjahren so viel Seligkeit verdankte, achtlos weggelegt zu haben, als sei dies Kind, das ich war, ganz fremd und außen von mir und nicht von innen, nur überwachsen und verwandelt entfaltet. Und langsam und bewußt ging ich seit diesen Sommertagen Schritt für Schritt zurück zu allen Büchern des Beginnes, zu den phantastischen, durch die ich als Knabe gejagt, schneller und heißer, wie die Rothäute dort durch die Prärien sausen, und weiter zu den schlichten und sagenhaften, die man noch mehr buchstabiert, als man sie liest, und schließlich zu jenen letzten weitesten, fernsten und schönsten, die man ohne das Lesen empfing, zu den Märchen, die einem erzählt werden. Und fühlte in diesem Wiederfinden zum erstenmal bewußt, eine wie hohe dichterische Kraft in diesen primitiven Dingen wirkt, fühlte staunend die Schönheit ihrer Naivität und die Kraft ihrer Anmut.
Denn Märchen, das weiß ich nun, kann man in seinem Leben zweimal und zwiefach lesen. Zuerst einfältig, als Kind, mit dem naiven Glauben, daß die belebt-bunte Welt ihrer Geschehnisse eine wahrhaftige sei, und dann, viel, viel später, mit dem vollen Bewußtsein ihrer Erfindung, mit dem frohen Willen zum Betrogensein. Zwischen diesem zwiefachen Genießen, dem naiven und dem bewußten, liegt der hochmütige Stolz des Halberwachsenen, das freche Gefühl der Flegeljahre, die zu stolz sind, sich hinzugeben an einen schönen Trug, die plump die Wahrheit wollen und eine kleine, ganz wertlose Tatsächlichkeit lieber nehmen als die reizvollste Phantasie. Mit dem Märchen geht’s wohl jedem so, daß er sie in diesen Flegeljahren verächtlich in den Winkel der Kinderstube wirft, um sie zeitlebens nicht mehr aufzuheben, und manchem auch mit der Bibel. Er hat sie beiseite gelegt, als er an Gott zu zweifeln begann, und seit damals, da sie ihm nicht mehr das heilige Buch schien, war sie ihm überhaupt keines mehr. Nie schlägt er sie vielleicht mehr auf, obzwar er tausend und tausend andere liest, und vergißt, daß dieses Buch auch neben der Religion schön ist und auch jenseits des Glaubens heilig als eines der edelsten Kunstwerke der Welt. Tolstoi hat einmal, nach der schönsten Novelle der Literatur befragt, die Erzählung von Josef und seinen Brüdern genannt, und so mag jeder, dem die Bibel seit Kindertagen fremd wurde, Esther, Hiob und Ruth mit neuer Bewunderung lesen, als Legende, als Märchen, wenn er will, aber doch als die tiefsinnigsten und schönsten des Lebens. Beseligung und Entdeckung ist in dieser Rückkehr zu den Büchern der Kindheit ein neuer, erhöhter Genuß des Lesens, der gemischt ist aus Unglauben und einem allmählichen Gläubigwerden wider den eigenen Willen. Und ich lese sie nun alle wieder gern zwischen all den dunklen und lastenden Werken unserer Zeit, und besser als jene antworten sie einem Bedürfnis nach Rast, das aller Lektüre doch zu Grunde liegt. Nach Rast von sich selber. Denn was wäre es anders, das uns zu Büchern treibt, als ein von sich Wegwollen? Das Bedürfnis, zu lernen, ist es längst nicht mehr, das hat uns die Schule verleidet. Immer ist’s nur Drang, aus den Grenzen eigener Welt zu treten, sich zu verlieren in Fremdem und doch gleichzeitig dort sich wiederzufinden im Gleichnis. Hier aber, in diesen beziehungslosen, ganz fernen, ganz außenhaften Märchen sind wir uns selber entführt und doch nirgends gespiegelt. Sie erinnern uns nicht an unser Leben: das macht sie so fern. Sie greifen nie ernstlich in unser Gefühl, sie streifen es nur: das macht sie so leicht. Sie beschäftigen bloß den inneren Blick und lassen das Herz frei, sie bezaubern, ohne zu belasten, sie sind Flamme ohne Qualm. Wundervolle Kraft vom täglichen, allzutäglichen Leben ist in ihnen. Die Gesetze unserer geregelten Stunden haben über ihr Geschehen keine Gewalt, die gemeine Ordnung ist gelöst in maßlosen Zufall. Dies im
Weitere Kostenlose Bücher