Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wittert sie einen besonderen Sinn hinter dem Gewöhnlichen. Und alle die unendlich typischen Schleichwege des Kindes auf dieser Jagd tun sich auf in diesem Tagebuch: Das Tuscheln mit den Freundinnen, das Geschwätz mit den Dienstboten, der heimliche Blick in das Konversationslexikon, bis sich allmählich nach vielen vergeblichen Irrungen – die im einzelnen dem Erwachsenen und besonders dem, der seine eigene Jugend vergessen hat, ein mitleidiges Lächeln entlocken mögen – die richtige Spur findet. Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tagebuche eines Halbwüchsigen ist natürlich der Brennpunkt des Interesses die Sexualität.
Die Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die Neugier noch aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn eines noch unentwickelten Körpers, und die Unruhe quillt aus dem Verstand, nicht aus den noch dumpfen Zonen körperlichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirkliche Befriedigung auf Erkenntnis, im Gegenteil: der erste zufällige Einblick wird für das scheue Kind zum seelischen Schock. Mit Ekel, mit Abscheu, Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes Gefühl auf alle Ahnungen des Körperlichen. Statt sie an das feurige Geheimnis näher hinzudrängen, schreckt sie die Mechanik des Liebesaktes vorläufig zurück. Nirgends ist in diesem nervösen Kinde trotz aller geistigen Unruhe, trotz aller funkelnden Neugierde ein Atem von Verderbtheit. Man spürt, diese Unruhe ist (wie wahrscheinlich bei den meisten Kindern, was aber Lehrer und Erzieher selten ahnen), absolut präerotisch, sie ist nur Unruhe nach dem Leben, nach dem Zusammenhange, das allzu erklärliche Gefühl nach Ebenmäßigkeit des Wissens, das keine Lücken und leere Stellen dulden will, dasselbe Gefühl, das die junge Menschheit als Gesamtheit von ihrem Anfang getrieben hat, ihre eigene Erde zu durchforschen, unbekannte Kontinente sich bekannt zu machen, alle Ströme, Berge, Seen und Wälder in eine Karte einzuzeichnen und über diese Erde hinaus noch mit Teleskopen und Berechnungen nach den anderen Welten ins Unendliche zu spähen. Gerade dies Nachbarliche der unbändigen Neugier mit dem anderen Geschwätz von neuen Kleidern, verpatzten Schulausflügen, Gouvernantenqual, hellt zauberisch das Wunder des Welterwachens auf, das mit der Jugend jedes Menschen wie der Menschheit mystisch verknüpft ist, und das verhängnisvollerweise so früh in dem normalen Menschen wieder erlischt. Vielleicht auch schon in dieser Frau erloschen wäre, die heute vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählte, wenn sie der Tod nicht hinweggenommen hätte, und deren Namen die Herausgeber sorgfältig verschweigen (die auch in dem Buche durchwegs Namenverstellungen vorgenommen haben, um auch die Spur zu verwischen). Eben deshalb aber, weil es so typisch ist, sollten kluge Eltern und kluge Erzieher dieses Buch zur Hand nehmen, freilich nicht, um danach zu erziehen und vielleicht mit der jetzt so beliebten Aufklärung einzusetzen und zu versuchen, den ihnen anvertrauten Kindern etwas von der Unruhe und der Qual ihres Suchens wegzunehmen, die hier so erschütternd im Bilde des namenlosen Kindes wirkt. Denn wer vermag zu sagen, ob diese Unruhe, diese brennende Neugier nicht etwas unendliches Kostbares und Schöpferisches in jedem Kinde ist, ob nicht bei einzelnen gerade aus ihr die Möglichkeit entwächst, sich das Mystische des Lebensgefühles über die Kindheit hinaus zu bewahren. Ob vielleicht nicht Menschen, die in ihrer Kindheit die ganze Not dieser Unsicherheit, die Spannung des Geschlechtes so stark empfunden haben, sich auch dann später im Erotischen reiner den heiligen Schauer des kosmischen Gefühls und anderseits die starke Reizsamkeit leidenschaftlicher bewahren. Es ist vielleicht nicht gut, zu verbessern, wo man nicht weiß, was im einzelnen ungestaltete Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen ist, und das Schicksal, das wunderbar eigenwillige, das mit Kindern wie mit Menschen nach seinem Sinn spielt, bevormunden zu wollen. Aber es ist immer gut, Menschliches zu verstehen, und zu diesem Verständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines der kostbarsten, das je die Wissenschaft Hand in Hand mit dem Zufall dargeboten, und das nicht durch Kunst, sondern einzig dank jener mystischen Schöpfungskraft der Jugend, die immer dichterischer wirkt als die besten Nachdichtungen von Kindheit.
Witikos Auferstehung
Berlin, Dezember 1921, Anlässlich der Neuausgabe des Romans »Witiko« von Adalbert Stifter
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