Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wo der Mensch – und die meisten Erwachsenen gestehen damit die Armut ihres Innenlebens ahnungslos ein – dann wieder das Leben als etwas Automatisches, als etwas Funktionelles empfindet, läßt die Intensität ihres eigenen Empfindens nach: nur erlesene Menschen behalten jene wunderbar gesteigerte Fähigkeit über die Kindheit hinaus für immer fort, das Leben unausgesetzt als mystische Macht zu empfinden, ewig rätselhaft, ewig unentwirrbar, voll von Überraschungen und Erkenntnissen, und sich selbst als eine Beute unablässiger Abenteuer. Deshalb führen die Erwachsenen nur ausnahmsweise mehr ein Tagebuch, fast immer nur dann, wenn sie irgendwie in das äußerlich Bewegte der Welt historisch eingemengt sind, wie jetzt die Diplomaten und Heerführer; das Kind in den Pubertätsjahren aber empfindet nicht seine Existenz innerhalb besonderer Geschehnisse als wichtig, sondern die Tatsache des Lebens überhaupt, und diese zwingende Betonung jeder kleinen Zufälligkeit, ungeachtet, ob sie andere als banal empfinden mögen, erhöht zauberhaft ihre innere Spannung. In den halbwüchsigen Menschen ist darum eine tiefere – und wieviel richtigere! – Wertung jeder neuen Stunde bereit; das Unscheinbarste belebt sich durch Gefühl, jede Begegnung durch Erwartung. Nur im Kinde, in dieser Spanne von Jahren zwischen der Unbewußtheit und dem schon allzu Bewußten wirkt sich jene Intensität aus, die dann in den Dichtern die Kindheitsjahre überwächst und ihnen das Gefühl der Welt als eines unberechenbaren Mysteriums rein und leidenschaftlich bewahrt.
Unbedeutsam im gewöhnlichen Sinne mag darum auch dieses Tagebuch dem Unbedeutenden gelten, denn es ist weder stilistisch schön geschrieben, noch geistig sonderlich hochwertig, eben nur ein Dutzendtagebuch irgendeines Halbkindes. Aber eben das typische Kleinmädchengeschwätz darin, die ahnungslose Aufrichtigkeit (die dem Dichter ja fehlt), daß jemals ein fremder Blick in diese Blätter eindringe, geschweige denn, daß sie jemals in Buchform vervielfältigt werden könnten, macht seine Lektüre so anregend für alle jene, denen das bloße Verstehen von seelischen Dingen selbst schon eine Art geistiger Lust geworden ist. Es ist voll von zufälligem Geschwätz über Konditoreien, Ausflüge, Kameradinnen, Eifersüchteleien, Schuldummheiten, Familienepisoden, aber eben dadurch ist auch den wesentlichen Dingen der richtige Rang im Seelenleben ausgewertet. Denn der Dichter, die sonst einzige Quelle, der eine Kindheit schildert, die eigene oder eine fremde, in Selbstbiographie oder im Roman, verstellt aus dem innersten Gesetz der Kunst bewußt-unbewußt das Gleichgewicht. Er gibt bloß Abbreviaturen, Verkürzungen des kindlichen Seelenlebens, weil er nur das aufzeichnet, was die Erinnerung nach Jahren noch als wesentlich bewahrt hat, nicht aber das Gleichzeitig-Banale, dem das Besondere entwächst. Er zeigt nur die Meilensteine, statt des ganzen Weges, er schafft Auslese, betont nur das Wissende im Kind, die frühe Weisheit, während hier im Tagebuch noch die ganze breite Folie der Torheit und ahnungslosen Dummheit sich in den Aufzeichnungen naturhaft aufstuft.
Das Erlebnis dieser Jahre, das Wesentliche dieses Buches ist selbstverständlich das Nicht-mehr-Kind-sein- Wollen. Der Wille, als voll gewertet zu werden, um alle Geheimnisse zu wissen, die alle Erwachsenen so krampfhaft vor ihm verbergen. Mit Zorn und Erbitterung notiert die Elfjährige immer, wenn Vater, Mutter oder Schwester sie eine »Kleine« oder »Kind« nennen. Mit Ungeduld will sie schon hinauf in die andere Welt, will sie die verschlossenen Türen zerbrechen, hinter denen sie manchmal unverständliche Worte hört und hinter denen für ihr Empfinden das »eigentliche«, das wirkliche Leben liegt. Jedes dieser aufgelauschten Worte hinter den verschlossenen Türen des großen Geheimnisses wird zum Ereignis, zum Geschehnis, denn ahnend spürt das noch ahnungslose Kind, daß diese abgelösten Worte gleichsam Chiffren sind, mit denen man, wenn einmal die Buchstaben ihres Sinnes auseinandergenommen sind, das ganze Zauberbuch im Fluge durchlesen könne. Wie auf der Wiese hinter Schmetterlingen ist darum dies gespannte Kindwesen mit seinen Freundinnen hinter jedem solchen aufgeflatterten Wort her. Irgendjemand hat »Verhältnis« gesagt und gelächelt dabei – was bedeutet das? Von der Kusine erzählen sie, daß sie »bleichsüchtig« sei, von einem Onkel, er sei »nicht normal«. Mit der Spürkraft aufgereizten Empfindens
Weitere Kostenlose Bücher