Stefan Zweig - Gesammelte Werke
deutschen Brüder, die hier noch in der innigen Waffenbrüderschaft zusammenwirken. Kein Wort in diesem Roman, das irgendeinen Unterschied machte in der Landschaft oder in den Menschen, in den Sitten oder Gebräuchen – mit einer Feder, mit einem Atem zeichnet der Dichter in beiden Sprachen gleiche Liebe und gleiche heimische Welt. Nur aus diesem verschollenen österreichischen Geist konnte ein solches heute zeitungemäßes Wunder geschehen, daß eine Nation das Heldengedicht ihrer Jugend, diesen ›Witiko‹, aus den Händen einer andern Sprache empfing, und vielleicht klingt unsere Zeit der gewaltsamen nationalen Abgrenzung wieder bald so sehr ab, daß wir das andere Wunder noch erleben: wie die tschechische Nation dem Dichter Adalbert Stifter, der in deutscher Sprache geschrieben und in dieser deutschen Sprache die Ilias der tschechischen Nation geschaffen, ein Denkmal des Dankes und der Liebe in ihrer Hauptstadt Prag setzt.
Der richtige Goethe
1923 veröffentlichte Zweig einen Essay, der die verschiedenen Gesamtausgaben von Goethes Werken vergleicht.
W elche Goetheausgabe, fragt sich mancher, soll ich mir wünschen, soll ich mir wählen? Einstmals, eigentlich ein halbes Jahrhundert lang waren die Auswahlausgaben am meisten begehrt, denn die frühere Generation sah in Goethe immer und einzig nur den Dichter und betrachtete seine naturwissenschaftlichen, seine philosophischen und geologischen Studien nur als lästige Schrulle des alternden Mannes, und erst das letzte Jahrzehnt hat eigentlich den Deutschen wieder die Ganzheit Goethes, diese einzige Summe von Leben, Tätigkeit und Werk gegenständlich gemacht. Die großen Biographien von Bielschowsky, Gundolf, Chamberlain, Emil Ludwig ließen mit einemmal so eine einzige Erscheinung als einen Kosmos betrachten, als durchaus organische Einheit, innerhalb der jede individuelle Betätigung ebenso naturnotwendig und gesetzhaft sich offenbarte als die bloß dichterische Produktion. So verwandelte sich mit zunehmender Erkenntnis des geistigen Umfangs auch die zunehmende Neigung, den ganzen Goethe zu besitzen, und eine Reihe von Ausgaben der letzten Jahre bieten die gleiche Erscheinung in den verschiedenartigsten Formen dar.
Welche nun ist die richtige, in welcher ist der wahre, der vollkommene Goethe am reinsten, übersichtlichsten und einheitlichsten erkennbar? Die Musterausgabe muß natürlich die sogenannte Sophienausgabe der Großherzogin von Weimar bleiben, die nicht nur alle Texte, Fassungen und Versionen gleichzeitig mit den Briefen und Urkunden bringt, sondern auch jede Wortdifferenz zwischen handschriftlicher Vorlage und Druck in den Anmerkungen sorglich festhält. Zwei Geschlechter von Goethe-Philologen haben daran ein Vierteljahrhundert gearbeitet und erst im Kriege den Schlußstein des weitausladenden Gebäudes gesetzt, eines Baues, wie ihn in Schönheit des Gegenstandes, in Fleiß und Sauberkeit der Ausführung kaum irgendeine andere Nation auch nur annähernd vergleichbar hat. Sicherlich wäre also die Sophienausgabe von den richtigen die richtigste, aber sie ist eben durch ihren Umfang den Meisten unerreichbar, denn sie umfaßt nicht weniger als 154 große Bände, füllt also für sich allein schon einen ganzen Bücherschrank und ist überdies bereits längst vergriffen, nur selten im Antiquariat vollständig und dann nur zu einem Phantasiepreis aufzutreiben. Ihr zur Seite trat die Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe des Insel-Verlags, die einerseits die Vollständigkeit der Sophienausgabe erhalten, aber andererseits ihren Hauptmangel für den Gebrauch, nämlich die Unhandlichkeit glücklich beseitigen wollte. Sie verzichtet auf Anmerkungen, Einleitungen, Zeitbestimmungen und bringt nur den vollständigen, revidierten Text von sämtlichen Goetheschriften, mit Ausnahme der Briefe und Gespräche (die sich jetzt in gleicher Ausstattung frei anschließen). Durch die Anwendung des englischen Dünndruckpapiers ist es gelungen, das ganze gigantische Werk in 16 weichgebundenen Bänden zusammenzudrängen. Im Bücherschrank nimmt diese wundervolle Ausgabe kaum eine Reihe ein, und jeder einzelne Band ist ausgezeichnet geeignet, auf die Reise oder bei einem Spaziergang in der Tasche mitgenommen zu werden: so ist sie die richtige Ausgabe, um Goethe mit sich zu haben und doch ganz zu haben, während die Sophienausgabe die typische für öffentliche oder private Bibliotheken, für den Forscher und Ergründer darstellt. Eine dritte Ausgabe wiederum, die
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