Stefan Zweig - Gesammelte Werke
nördliche, südliche Böhmen mit seinen Bergen, Flüssen und Städten und Sitten und Menschen. Das war nicht mehr der kleine, liebliche Winkel von Oberplan, von dem wir jede Tanne zu kennen glaubten und jede Mulde, jeden Baumschlag im Grünen und jeden aufragenden Berg – hier tat sich ein ganzes Reich auf, frühslawisches Mittelalter mit alten Recken und wunderlich bäuerlichen Menschen, eine Welt der Kämpfe und der Gestalten, sagenhaft schön, bildlich nah und magisch fern. Hier war Geschichte mit einemmal gebildet und lebend geworden, und ich kenne keinen historischen Roman, der auf eine so lautere, reine Art Geschichte in Dichtung zu verwandeln wußte als diesen. Bei Stifter gibt es ja keine Einleitung, keine schwulstigen Abhandlungen, er rahmt nicht seine Menschen um irgendwelche mittelalterlichen Attrappen hin. Er läßt sie nur miteinander sprechen, und da erzählt etwa in einer Ratsversammlung irgendein alter Adeliger, wie das Reich an die Fürsten kam, ein anderer erwidert ihm, und so flicht sich wie an einem Teppich Bild an Bild allmählich die ganze Zeit zu einem ungeheuren Gobelin zusammen, der eine weite Fläche von Jahrhunderten ruhend bewegt überspannt. Ich weiß nicht, ob die tschechische Nation irgendwo in ihrer Nationalliteratur eine ähnliche bildhafte Beschreibung der Belagerung von Prag hat, und eine Darstellung ihrer Schlachten. Ich glaube auch nicht, daß in irgendeinem historischen Roman mit ähnlicher Leichtigkeit die Bindung zwischen dem österreichischen, dem deutschen und dem böhmischen Land, also dem Herzen Europas, so zu innerem Ausdruck kam. Hier ist eine Welt, eine Zeit mit unendlicher Einheit gestaltet, ganz als Vision und doch wahrscheinlich, dokumentarisch treuer, als alle die künstlichen Nachbildungen es sonst ermöglichen.
Daß dieser Roman von Stifter ist, verleugnet er übrigens nirgends in seiner wesentlichen Eigenheit. Auch hier sind die Menschen alle rein und gut, die Landschaft ohne Harm und voll Freundlichkeit – hier wie immer hat der einsame bittere Landesschulrat in Linz, wenn er verdrossen nachmittags aus seinem Büro nach Hause kam und sich an seinen Schreibtisch setzte, sich eine reine Welt, eine ganz einfältige, gütige, nicht die wahrhaftige, in Gut und Böse zerspannte und zerrissene, umgeträumt. Und nirgends wird auch dieser Roman wahrhaft aufregend: bei Stifter gibt es ja keine starke Spannung, keine Entladung und Explosion, kein Feuerwerk der Leidenschaft, weshalb man ja immer geneigt ist, ihn langweilig zu nennen. Aber ich glaube, dies ist nur eine Frage des musikalischen Empfindens, ob man Stifter zu lesen weiß oder nicht. Wer aber die Fähigkeit hat, sich diesem reinen, sanft melodischen, nie aber in seinem Takt auch nur für eine Sekunde stockenden Stil mit der Seele ganz hinzugeben, der gleitet nicht nur durch die schmalen Wasser seiner Novellen, sondern auch den breiten Strom seiner Romane hin, wie in einem Traum: man spürt keine Zeit, man spürt keine Müdigkeit. Es gleitet sich gut, und immer neue Bilder fließen in immer neuen Landschaften vorbei, und immer ist unter einem das sanfte Getragensein von leiser Musik. Über Stifter läßt sich nicht streiten, es ist eine Frage des Gefühls, des Empfindens, eines besonderen künstlerischen Sinns. Wer diesen aber hat, dem wird Stifter nie großartiger erschienen sein als in seinen wahrhaft großen, solange verkannt gebliebenen Romanen, dem ›Nachsommer‹ und dem ›Witiko‹, wo er sich nicht, wie die Törichten so lange meinten, als eine Art österreichischer Theodor Storm oder Paul Heyse erweist, sondern nur mit Goethes lautersten Prosawerken, dem ›Wilhelm Meister‹ und den ›Wahlverwandtschaften‹ in sprachlicher Kunst und reiner Ruhe verglichen werden kann.
Was uns aber noch besonders ergreifen muß, ist jenes alte Österreichertum, darin jenes vor fünfzig Jahren, das nun wieder (typisch genug) gleichzeitig mit ihm zu Ehren kommt. Jenes Österreich, das den Nationalismus noch nicht erfunden hatte, wo der Dichter, in welcher Sprache er immer schrieb, alle Landschaften des Reiches mit gleicher Liebe, alle Völker mit gleicher Achtung nahm. So hat Grillparzer in der ›Libussa‹ die Tschechen mit der Neigung verwandter Geister geschildert, so schafft Stifter – was wir jetzt erst entdecken – derselbe Stifter, den man nachher schon absondernd in der Zeit des Nationalismus einen »Deutschböhmen« nannte, das ungeheure Freskobild des ganzen Böhmen, seiner tschechischen und seiner
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