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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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er, daß er ihn schafft, der sich doch von ihm erschaffen fühlt.
    »Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister
Und bauen dich, du hohes Mittelschiff.«
    Und dieser Gedanke der individuellen Gottschöpfung, tausendfach verzweigt mit vielen blütetragenden Ästen durch das Buch, zeitigt die nötige Folgeerkenntnis, daß dieses Gottes Leben an dem eigenen hängt, daß der Gott, der von einem eigen erschaffen ist, nicht über einen hinaus lebt. Und der Dichter bricht in die bange Frage aus:
    »Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?…
… Mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
Dich Worte, nah und warm begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
Die Samtsandale, die ich bin.«
    Das sind jene tiefen und schon in das Dunkel des Unbewußten hinüberzitternden Erkenntnisse, die man für leicht hält, wiegt man sie in der hohlen Hand, leicht wie Edelsteine. Und man ahnt kaum, wieviel harte Berge um sie durchwühlt sein mußten, ahnt nicht die verarbeiteten, verwachten Nächte, die zerschundenen Hände. Man fühlt nur ein Licht darin glänzen und ahnt nicht, daß dies ein geheimnisvolles, dem tiefsten Dunkel entnommenes Licht ist, das erst wieder zu brennen anfängt, wenn eine gleiche Seele es beschaut.
    Vielen wird dieses wunderbare Versbuch ganz stumm bleiben. Und wer die Hetzjagd nach gereimter Verstiegenheit durch moderne Bücher liebt, wird hier auf seine Rechnung kommen, denn einzelne Verse – unerhört in der Verwegenheit der Vergleiche – reizen tatsächlich, wenn man sie aus dem Zusammenhang, aus dem Erdreich der dunklen, mystischen Atmosphäre reißt, zur Heiterkeit. Und auch – wie immer – scheint manchmal der wildeste, inbrünstigste Fanatismus in seinem wilden Willen, Gott zu vermenschlichen, ganz an sein Herz zu reißen, fast als Blasphemie. Das ›Stundenbuch‹ verlangt mit Liebe gelesen zu werden. Und vor allem nicht auf einen Zug, sonst macht es müde wie Psalmodieren. Wie ein Gebetbuch, in stiller Stunde, wenn man schon ehrfürchtig bereitet ist, will es aufgeschlagen sein, und dann fühlt man wirklich den Orgelklang von Versen, wie sie keiner – keiner! – heute in Deutschland schöner, voller, klingender und reicher schreibt. Eben weil das breite Publikum an diesem Buch vorübergehen wird, sei es mit allem Nachdruck und mit aller Liebe gesagt: es ist eines der reichsten unserer neuen Poesie, und der Name Rainer Maria Rilkes einer derer, die bleiben werden.

Das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens
    1919, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien
    A ls erste einer Reihe von ›Quellenschriften zur seelischen Entwicklung‹ veröffentlicht der Internationale Psychoanalytische Verlag – offenbar eine Gruppe von Schülern, die sich dem umfassenden Gedankenkreise Professor Freuds verbunden haben – ein ganz merkwürdiges Dokument: das unverstellte Originaltagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von seinem elften bis zum vierzehnten Jahre. Das Seltsame in diesem Buche, das Bedeutsame im psychologischen und pädagogischen Sinne ist nun, daß dieses Tagebuch keineswegs das eines Wunderkindes ist, einer zukünftigen Maria Bashkirtseff, sondern im Gegenteil das eines ganz normalen, gar nicht sonderlich begabten, gar nicht sonderlich sensitiven und gar nicht sonderlich erlebnisreichen Kindes aus der sogenannten guten Wiener Gesellschaft. Nur eben eines jener unzähligen, oft belächelten und verspotteten Tagebücher, wie sie fast jedes Mädchen unfehlbar irgendeinmal in den Schuljahren beginnt. Aber schon die Regelmäßigkeit dieser Erscheinung mag Erkenntnis sein für die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, für das fast Gesetzmäßige, daß Kinder und besonders Mädchen gerade in jenen Entwicklungsjahren aus einem zwingenden Gefühl beginnen, sich täglich schriftliche Rechenschaft von sich abzulegen, um dann mit siebzehn oder achtzehn Jahren dieses tägliche Einschreiben schon wieder als kindliche Spielerei zu verachten und überlegen lächelnd zu verwerfen. In jenen Jahren, wo der wirklich persönliche Mensch dem spielhaften Kindeswesen entwächst, wird ihm unbewußt das Leben als Ganzes und insbesondere sein eigenes Leben irgendwie plötzlich wichtig und geheimnisvoll: unbelehrt fühlt das Kind in seinem Wachstum, was dann erst später wieder der Psycholog weiß und was Freud als erster so meisterhaft klargelegt hat, daß in jenen Jahren des gespannten Empfindens bei dem Kinde jede Richtung zur Entscheidung, jeder Zufall zur Bestimmung wird. Im Augenblicke,

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