Stefan Zweig - Gesammelte Werke
hat Balzac dem modernen Roman eine neue Welt eröffnet. In großen Epopöen und in kleinen, wie ein Blitzlicht hinhuschenden Augenblicken hat er die Gefühle gefaßt, die ans Geld geklammert sind als an das Symbol des Besitzes. Zum erstenmal finden die materialistischen Gefühle ihren Dichter: Balzac weist nach, daß es für einen jungen Mann gleich schmerzlich ist, einer Dame einen Wagen verweigern zu müssen, weil man keine fünf Francs in der Tasche hat, als ihn zu verweigern aus Eifersucht, aus Trotz, aus Eitelkeit oder irgendwelchem abstrakten Motiv. Alle seine Helden rechnen. Sie wissen, was sie das kostet, ihren Engel zu sehen: eine Schneiderrechnung, die ihr Jahreseinkommen übersteigt, einen Wagen, eine Rose, ein elegantes Hemd, ein Trinkgeld an den Diener. Sie wissen, was es für eine Katastrophe ist, in eine vornehme Loge eingeladen zu sein und einen alten Frack zu haben. Dies beschäftigt sie mindestens so wie ihre verliebten Sorgen, und mit der Schilderung dieser peinlichen Tragödien hat Balzac eine unendliche Fülle von Wahrheit und Lebensstoff dem modernen Roman zugeführt. Diese kleinen Episoden – Erinnerungen aus seiner eigenen Jugend vielleicht – reizen ihn jedoch nur. Aber Balzac berauscht sich in der Darstellung der großen Börsenoperationen, die mit einem unsäglichen Raffinement ausgedacht sind (man vergleiche nur als Gegenbeispiel die kindische Art, mit der der Graf von Monte Christo im ungefähr gleichzeitigen Roman des Dumas père 300.000 Francs gewinnt). Wie Armeelieferanten, Bäcker, Bürokraten, Spekulanten in den Umsturzzeiten der Revolution bis zur Restauration sich Vermögen schaffen, wie die Arrivisten es den Besitzern wieder entreißen, dieses gierige blinkende Auf und Ab des Geldes, dieses Einströmen und Zerrinnen hat Balzac geradezu mit wollüstiger Glut geschildert; ganz verwirrt oft von dem Gedanken der Unerschöpflichkeit schleudert er Summen und Unsummen von Hand zu Hand, Millionenvermögen brechen wie ein Ungewitter über Bettler herein, Kapitale zerrinnen wie Quecksilber, wenn einen die Leidenschaft der Vergeudung packt. In Riesendimensionen offenbart sich ihm da Paris, keuchend und dampfend im Kessel der Gelüste, wie Dantes Verfluchte windet sich die ganze Menschheit in einem eigenen, zehrenden Gedanken: Geld, viel Geld, Kapitale, Summen, Millionen… Milliarden…
Aber ist für Balzac dieser Wille nach Macht schon die Philosophie des Lebens? Balzac hat wahrscheinlich gar keine Philosophie gehabt, weil er sie alle in sich lebte. Mit jenem immensen Projektionsvermögen, das ja die innerste Wurzel seines Genies ist, hat er sicherlich in den Augenblicken, da er seine Kreaturen sprechen und denken ließ, selbst ihre Ansicht als die unumstößliche empfunden. Er war Nihilist (in ›Trompe la Mort‹, dem Galeerensträfling) lange vor dem Wort, Arrivist und Opportunist (Rastignac), Altruist (Goriot und zahllose andere Figuren), Materialist (Bianchon), Positivist und was es überhaupt noch gibt an philosophischen Spezies. An Galls Phrenologie, wie überhaupt an den gleichzeitigen biologischen und chemischen Theorien hat er immensen Anteil genommen, alle Möglichkeiten des Denkens mit der geradezu unheimlichen Rapidität seines Intellekts aufgesogen und verarbeitet. Dann strömte alles hervor, wenn er schrieb, ein Sprudel quellender Paradoxe, funkelnder Wahrheiten, geistreicher Aperçus, die sich leichtfertig zu Axiomen erweiterten, ohne daß sich seine hastige Art andererseits Mühe nahm, diese Axiome zu Gesetzen zu verarbeiten oder gar als Grundlinien eines Weltbildes zu fundieren. Er selbst scheint indifferent, ein Fatalist seiner Seele. Nur eine heimliche Meinung, wie eine verschämte Liebschaft, hat ihn der Mystik angenähert; er, der klarer sah als alle anderen, fühlte sich verwirrt von der Unermeßlichkeit und sehnte sich nach einem Sinn. Zwei ganz merkwürdige, von Swedenborg inspirierte Novellen ›Louis Lambert‹ und ›Seraphita‹ stehen abseits von seinem Werk, so abseits fast, als kämen sie aus seinem Leben. Dort – wie in der ›Messe des Atheisten‹ der Freigeist heimlich in die Kirche schleicht – hat er viel von seinem innersten Glauben vergraben, aber zu tief, als daß man es je blank ans Licht bringen könnte. Dort allein glüht jener visionäre, aus tausend Himmeln erschreckt auf der Erde erwachende Blick des Balzac, wie ihn Rodin in seinem Standbilde versuchte, wieder in sich selbst zurück. Und dort hat er, der uns unbarmherzig tausend fremde
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