Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Katastrophe werden. Balzac liebt den Dandy, weil er eine Menschenklasse für sich ist und ihn jede Spezies des Irdischen, sobald sie zum Typus wird, in die Schilderung hinreißt. Und so hat er auch dem armen alten Brummell, dem berühmtesten Gecken, hier ein Denkmal gesetzt, das alle Daten und Anekdoten und Schilderungen über ihn reichlich aufwiegt. Es ist einer der reizvollsten Artikel dieses entzückenden Buches und verdiente sehr bekannt zu werden.
Überhaupt, dies Buch strahlt mit Funken, es verlockt einen nach rechts und links, schmeidigt einem die Nerven durch sein elektrisches Spiel mit Worten und Meinungen. Bekommt man es in die Hand, ohne etwas von Balzac zu wissen, so vermutet man irgendeinen genialen Lustspieldichter als Autor dahinter, einen Beaumarchais oder Molière, irgendeinen, der das Leben nur als Farce betrachtet und mit einer ungeheuerlichen Leichtigkeit und seligen Schwebe des Empfindens zu erfassen weiß. Und da erkennt man wieder die unendliche Verwandlungsfähigkeit Balzacs, sich selbst mit dem Stoffe zu verändern, leicht zu werden an den leichten Dingen, tragisch an den verworrenen, bedeutsam in seinen philosophischen Erörterungen, jene geheimnisvolle Seelenlosigkeit der ganz Großen, die, wie bei Shakespeare, das Göttliche und Unbegreifliche des vollendeten Künstlers darstellt.
W. Fred, der ja mit seinen eigenen Werken über die ›Lebensformen‹ anscheinend absichtslos ein bedeutsam Kulturelles will, irgendwie die Deutschen von der Schwere und Langweiligkeit zu erlösen, hat sich mit dieser Zusammenstellung ein großes Verdienst erworben. Er hat den Deutschen an einem vollendeten Beispiel gezeigt, wie man leicht sein kann, ohne oberflächlich zu werden, theoretisch scheinen, ohne in einem Wust von Papier zu ertrinken, und vor allem, daß es auch einem großen Künstler ansteht, manchmal nicht ganz ernst zu sein und mit den Dingen zu spielen, die er sonst ethisch zu werten und in leidenschaftliche Gegensätze zu bringen gewohnt ist. Einen zweiten Band hat er uns versprochen: wir erwarten ihn ungeduldig.
Zu Goethes Gedichten
Essay zu Goethes Gedichten,Reclam-Verlag Leipzig (1926, 1927)
D as erste Gedicht Goethes malt die ungelenke Kinderhand des Achtjährigen auf ein Geburtstagsblatt für die Großeltern. Das letzte Gedicht Goethes schreibt die zweiundachtzigjährige Greisenhand, einige hundert Stunden vor seinem Tode. Innerhalb so patriarchalischer Weite des Lebens schwebt unwandelbar die Aura der Dichtung über diesem unermüdlichen Haupt. Es gibt kein Jahr, in manchem Jahr keinen Monat, in manchem Monat keinen Tag, wo dieser einzige Mensch sich das Wunder seines Wesens nicht selbst in gebundener Rede erläutert und bekräftigt hätte.
Mit dem ersten Federzug beginnt also bei Goethe die lyrische Produktion, um erst mit dem letzten Atemzug zu enden: Dichtung ist ihm ebenso unentbehrlich und selbstverständlich für die ständige Interpretation seines Lebens wie Strahlung dem Licht und Wachstum dem Baum. Sie wird durchaus organischer Vorgang, eine Funktion des Elements Goethes, eine nicht wegdenkbare, und fast wagt man nicht, sie Tätigkeit zu benennen, weil Tun schon etwas an den Willen Gebundenes ausdrückt, indes sich bei dieser notwendig schaffenden Natur die dichterische Reaktion gegen den Andrang des Gefühles gleichsam chemisch und bluthaft vollzieht. Der Übergang von der prosaischen Sprache ins gereimte und dichterische Wort geschieht bei ihm völlig zwanglos: mitten im Brief, im Drama, in der Novelle rauscht die Prosa plötzlich beflügelt in die ungebundene Form dieser höheren Gebundenheit. Jede Leidenschaft schwebt in ihr hoch, jedes Gefühl löst sich auf in ihren Sphären. Kaum wird man darum in der ganzen fülligen Breite seiner Existenz irgendeinem wesentlichen Geschehnis des Menschen ohne poetische Verdichtung begegnen. Denn wie selten das Gedicht bei Goethe ohne Erlebnis, so auch selten ein Erlebnis ohne den goldenen Schatten des Gedichtes.
Manchmal hat dies lyrische Strömen Stockungen und Störungen wie ein Körper seine Müdigkeiten. Doch nie lischt das Lyrische bei Goethe vollkommen aus. In den späteren Augenblicken seines Daseins glaubt man oft schon die von innen aufspringende Quelle unter der Dumpfheit des Lebens erstickt, vom Schutt der Gewöhnung versandet. Aber plötzlich sprengt ein Erlebnis, eine Explosion des Gefühles neue Quellen auf – aus anderer Tiefe, gleichsam aus anderen, verjüngten Adern beginnen die Verse neu zu strömen, das lyrische
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