Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Balzacs, des Napoleons der französischen Literatur. Vorläufig ist die Ausgabe auf zehn Bände geplant, damit aber schon die gute Idee vom künstlerischen Standpunkte aus verfahren (hoffentlich nicht auch vom buchhändlerischen). Denn das Werk Balzacs ist kein Konglomerat, sondern ein Komplex. Balzac durch zehn Bände vertreten zu lassen, das ist ein so fadenscheiniges und doch prätentiöses Beginnen, als wollte man über Balzac definitiv in einem Essay sprechen, über ihn, der Anfang und Ende, Ausgang und Rückkehr nicht nur der französischen Romanliteratur ist. Über ihn, für den ein Buch kaum genügte. Was man bei solchem Anlaß über ihn sagen darf, können nur Anmerkungen sein, gewissermaßen an den Rand seiner Werke hingeschrieben, Ausrufungszeichen und Interjektionen und ab und zu ein bescheidenes Fragezeichen. Aber immer nur etwas Fragmentarisches, Losgelöstes – Anmerkungen, Impressionen. Wie könnte man gründlich sein wollen gegenüber einem Unergründlichen!
Vor allem, womit sollte man Balzac in zehn Bänden dem deutschen Publikum vorstellen? Mit den Meisterwerken natürlich! Nun ist aber dies peinlich, daß Balzac – außer dem Meisterwerke seines Lebens, den siebenundachtzig Bänden seines Gesamtwerkes – kein Meisterwerk geschaffen hat. Ein, zweimal vielleicht, in ganz kurzen Novellen – ›Une passion dans le desert‹ und einigen der ›Contes drolatiques‹ – ist er der Vollendung nahegekommen, in jenen engen Grenzen, wo sich seine verstiegene Architektonik nicht ausleben konnte und er wie spielend kleine Bijous formte. Alle anderen Werke hat sein glühendes Temperament vernichtet, jene fieberhafte Schaffensglut, die ihn oft achtzehn Stunden ununterbrochen mit halluzinativ überhitztem Gehirn am Schreibtisch arbeiten ließ. Nahrung nahm er in solchen Tagen kaum zu sich und nur das Stigma eines dampfenden schwarzen Kaffees feuerte den Kessel seiner Schaffenswut. Alle seine Romane haben ein wunderbares Fundament, breite sorgfältig behauene Quadern wie die Florentiner Paläste. Ein Riesenbau will aufwärts streben. Die Gestalten sind minutiös beschrieben, die Situationen werden mit überlegener Ruhe gestellt und die Schicksale bewegen sich in sicherem Gang gegeneinander. Aber wilder wird ihr Drängen, je näher sie sich treten. Zu einem dichten Knäuel wühlen sie sich zusammen, fiebrige Verwirrung stößt diesen Ballen hin und her, bis die ermüdete Faust des Dichters sie mit einem letzten verzweifelten Schlag auseinanderschlägt. Der Beginn ist Kunst, das Ende Kolportage. Der Dichter Balzac setzt ein, der von Schuldnern gehetzte, unruhige Schriftsteller Balzac macht um jeden Preis ein Ende, um den Roman dem Verleger abgeben zu können. Wie ein Weber knüpft er sorgfältig die Fäden zusammen, wie ein hitziger Schuljunge zerreißt er den Knäuel. Ich habe nur einmal in der Nationalbibliothek in Paris ein Manuskript von Balzac zur Hand genommen und selbst in den Schriftzügen die Bestätigung gefunden. Der Anfang des Romanes hat feine, ruhige, beinahe klare Lettern – soweit dies bei Balzacs zierlicher Frauenschrift möglich war –, der Schluß aber hastet schief und krumm durch den Spreu von Klecksen unwillig zu Ende. Wie immer im Talente tränkt die Quelle der größten Vorzüge auch die geheime Kraft der Fehler. Bei Balzac war es das Temperament, dieser Vulkan von Glut, der Licht und Feuer über den erschreckten Himmel gießend mit wunderbarer Schönheit die Gegend erhellt, um sie im nächsten Augenblicke unter starrer Lavaflut zu begraben.
Und noch ein Grund, weshalb eine Auswahl von Balzacs Romanen immer fragmentarisch wirken muß. Alle seine Werke fast – die ›Comédie humaine‹ – sind so ineinander verkettet, daß sie sich nur durch einander ganz erklären. Balzac war wie alle, die sich mühten, das Leben in seiner höchsten Fülle darzustellen, kein Schilderer, sondern ein Vereinfacher des Lebens. Er komprimiert vorerst die ganze Welt in Paris. Dann die Gesellschaft in drei Salons. Und die ganze Menschheit in ein paar Typen, in gleichsam versteinerte Formen abstrakter Eigenschaften. Er, der reichste Schöpfer des modernen Romanes, verschwendete sich nicht an die unwichtige Einzelerscheinung, sondern löste hundert Menschen, die er kannte und die sich in einem gewissen Sinn ähnlich waren, in das Prototyp auf. Er braucht nicht viele Ärzte: überall, wo ein Gelehrter nötig ist, erscheint Bianchon, bald als Student, bald als Professor, als Causeur. So ist Rastignac
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