Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Kokotte, der dritte durch die Schlachten, der vierte durch die Salons, der fünfte sucht den Stein der Weisen. Einer, zwei vielleicht – Rastignac der skrupellose Streber – gelangen hin, die anderen stürzen ab, zerbrechen aneinander, am Leben. Das sind die Tragödien des Balzac. Dadurch, daß er alle Möglichkeiten menschlicher Tätigkeiten und Charaktereigenheiten mit einer bisher nicht wieder erreichten Exaktheit gegen ein Ziel gewendet hat, ist es ihm wirklich gelungen, wie Taine in seinem berühmten Essay sagt, »mit Shakespeare und St. Simon das größte Magazin menschlicher Dokumente zu vereinigen«. Es ist eine Arbeit, die kaum ihresgleichen in der Weltliteratur hat. Aber Honoré de Balzac hatte unter das Bild Napoleons die Worte geschrieben: »Ce qu’il n’a pu achever par l’épée, je l’accomplirai par la plume.«
Einen Blick zwischendurch auf das Leben Balzacs. Wie hat dieser Dichter sich eine so ungeheure Kenntnis der Menschen und des Lebens aneignen können? Die Wirklichkeit verwirrt dieses Rätsel noch mehr, statt es zu erklären. Er hat das Leben kaum gekannt, nur zwei, drei Jahre sich in der Welt umgesehen. In einer Dachkammer schreibt er in seinen jungen Jahren Meisterwerke. Dann faßt ihn das Fieber nach dem Geld, denn für ihn war Geld das Leben; er hatte in sich die Fähigkeiten, Millionen zu erwerben und noch mehr, sie zu verschwenden. Seine Druckerei, seine Spekulationen ruinieren ihn. Schulden haften wie Blei an ihm. Da beginnt er wieder zu schreiben, fieberhaft, Tag und Nacht. Aber die Schulden bleiben. Geld, Geld, Geld – immer der gleiche Gedanke. Um Mitternacht steht er auf und schuftet bis wieder in die Nacht hinein, ist berühmt, ohne es recht zu merken. Phantastische Projekte, wie sie nur die Helden seiner Romane haben, verlocken ihn von Zeit zu Zeit. Er will die sardinischen Minen, die seit den Römerzeiten verlassen sind, in Betrieb setzen, er plant einen großen Börsenwurf, versucht zu entdecken – aber von alledem bleiben immer nur Schulden. Das Manuskript ist verkauft, ehe es noch beschrieben ist: er hetzt es herunter, um ein neues zu beginnen. Endlich birst die überhitzte Maschine, viel zu früh bricht der Koloß zusammen, ohne je Zeit gehabt zu haben, ein Werk nach seinem Willen zu schaffen.
Er hat also fast gar nichts erlebt. Selbst die Liebesverhältnisse, die er hatte, waren mehr Literatur als Leben. Sie alle knüpften sich an eine vorausgegangene Korrespondenz; Balzac, der größte Illusionist der modernen Schriftsteller, konnte sich die Frau ebenso erträumen, wie er in den Vermögen seiner Helden wühlte, wie er in seinen Büchern Paris unzähligemal eroberte. Sicherlich hatte er einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er das Wort »Hunderttausend Livres Rente« hinschrieb, etwa wie ihn ein Gymnasiast erlebt, wenn er das Wort Liebe in seinen Gedichten stammelt. Abgeschieden von der Wirklichkeit, fiebernd an seinem Schreibtisch mußten seine Personen, mit denen er schaffend zusammenlebte, für ihn Wirklichkeit werden. Es ist jene künstlerische Halluzination, die der pathologischen so nahe ist – Flaubert hat darüber einen unvergänglichen Brief als Antwort auf Taines Enquête geschrieben – jene Halluzination, die allein den Dichter zur Plastik befähigt, weil sie ihn nicht aus Begriffen, sondern aus für ihn reellen Gestalten formen läßt. Taine schreibt sehr treffend über diesen Zustand ein paar Zeilen, die fast anmuten, als hätte er noch Machs Analyse der Empfindungen lesen können. »Les êtres imaginaires ne naissent, n’existent et n’agissent qu’aux mêmes conditions que les êtres réels. Ils naissent de l’agglomération systématique d’une infinité des causes.« Sie haben also eigentlich, wenn sie suggestiv sind, den gleichen Wirklichkeitswert wie die tatsächliche Erscheinung. Dies allein kann das Leben des Balzac erklären. Nur dadurch, daß sich dieser lebenshungrige, vom Willen nach Macht beinahe verwirrte Mensch jenseits des Lebens eigene Welten schuf und seiner eigenen Schöpfungen Glück und Unglück in den furchtbarsten Erschütterungen mitlebte, war sein Leben erfüllt, seine Leidenschaften gelöst.
Vom äußeren Leben hat er vehement nur die eine Tatsache empfunden: daß er verschuldet war. Daran dachte er in dem Augenblicke, wo er ein Blatt beschrieb, rechnete noch im Entstehen sein Schaffen schon in Francs um; so ist es nicht verwunderlich, wenn diese Idee des Geldes auch seine Helden und Bücher beherrscht. Damit
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