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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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in jedem seiner Romane der Aristokrat des Salons, Canalis der Dichter, Lucien de Rubempré der Journalist – dieselben Menschen begegnen sich auf den Schwellen aller seiner Romane. Nur daß jeder Typ in jedem Romane wieder nur Bruchstück ist. Wer versteht Rastignac in den ›Illusions perdues‹, den utilitaristischen rücksichtslosen Gecken ohne Gemüt, den Arrivé, wenn er nicht sah, wie Rastignac, der junge Student, gläubig, gutmütig, ehrlich nach Paris (id est – in die Welt) trat und erst in der Tragödie des ›Père Goriot‹ lernte, daß man »Männer und Frauen nicht anders bewerten dürfe als ein paar Postpferde, die man eventuell an der nächsten Relaisstelle krepieren läßt, nur um rascher zum Ziel zu kommen«. Balzacs Gestalten erschöpfen sich nicht in einem Roman, wie etwa in unseren neueren deutschen Romanen, die den Helden aus den Händen der Hebamme bis ins Grab tragen. Sein Entwicklungsroman ist die ›Comédie humaine‹, das Werk mit zwanzig Bänden und sein Held nicht einer der Menschen, sondern das Leben, das sie gegeneinander wirft. Und da keiner das Leben zu Ende dichtet, muß jedes Epos, das sich an ihm versucht, Torso bleiben, Fragment aus tausend Fragmenten.
     
    Was sind nun diese Menschen des Balzac? Sind sie Schemen oder Gestalten, Charaktere oder nur Typen? Gleich sind sie sich nur in einer Fraktur: in der Leidenschaft. Balzac interessierten nur bewegte Schicksale, intensive Merkmale. Details, so peinlich er sie auch empfand, waren ihm nur Farben auf der Palette, Instrument, nicht Melodie. Flaue Menschen hat er nie geliebt. Er, der – in der ›Histoire de treize‹ glaube ich – jeder Gasse eine menschliche Physiognomie unterschiebt, der in einem Hause einen Charakter, in einem Tiere eine Spezies entdeckte, liebte es, jeden Menschen markant, und zwar einseitig markant, zu sehen, in seiner Leidenschaft. Ehe die Menschen in seine Bücher treten, sind sie fast alle gleich, schwärmerische, zarte, idealische Dinge aus weichem Stoff. Nun nimmt er sie in die Faust. Um jeden legt er ein Schicksal, das ihm seine Leidenschaft formt. Und wie sie sich nun in den Salons, in den Straßen, in der Arena des Lebens begegnen, sind sie sich fremd, sie wühlen gegeneinander und werden sich selbst Schicksal. Von diesen Leidenschaften ist aber die Liebe nur eine und nicht die stärkste. Ist die Gier, mit der im ›Cousin Pons‹ die beiden Gestalten ihre Gemälde sammeln, nicht so heftig, wie jene wahnwitzige Liebe des alten Baron Uncingen, der sein Vermögen an eine Dirne verschwendet? Ist der Wahn des Erfinders, der Baltasar Claes vernichtet, nicht so urgewaltig wie die Kindesliebe des Père Goriot, der sein Leben seinen Töchtern verschreibt? Und der Haß gegen die Gesellschaft Vautrins, des Galeerensträflings, der in zwanzig Masken durch die Bücher Balzacs geht, die Eitelkeit Rastignacs, die Niedertracht Delphines, der Geiz Madame Vaugners, die Güte Schnuches – sind sie sich nicht ähnlich in der Glut ihrer Leidenschaft, wie geschmolzene Metalle? Von allen Dichtern hat keiner die formende Gewalt des Schicksals mehr betont als Balzac, keiner mehr die Theorie der angeborenen Leidenschaften verworfen. Die Dämonie der Leidenschaft ist es allein, die Tragik erzeugt, Leidenschaft aber, die so stark ist, daß sie alle Geschwister ihres Gefühls so rücksichtslos erdrosselt, wie Bonaparte die tüchtigen Generäle an seiner Seite zerschmetterte, um Napoleon zu werden. Da aber solche übermäßige Leidenschaft kein Gleichgewicht duldet, so entsteht auf der Fläche, die gewissermaßen die Szene des Romans darstellt, ein jähes Gleiten nach abwärts, eine Katastrophe. Fast alle Romane Balzacs enden in Katastrophen, in jähen, mit aller Skrupellosigkeit des äußeren Motivs herbeigeführten Abstürzen.
    Eine bunte Armee, die Gestalten Balzacs. Der Galeerensträfling neben dem Roué, der Gelehrte neben dem Concierge, der Offizier neben dem Gesellschaftsstreber – alle gehen sie den gleichen Weg, ohne Parole, ohne Ziel. Die Menschen Balzacs kommen nach Paris – in die Welt. Eines Abends sehen sie ein Palais im Glanz, ein elegantes Phaëton, das, eine träumerische schöne Dame tragend, gegen den Bois lenkt. Und alle haben sie den gleichen Gedanken: für dich dieses Haus, diese Frau, Paris, die Welt! Alle seine Helden wollen die Welt erobern. Und nun gehen sie hartnäckig ihren Weg. Der durch den Seziersaal, jahrelang in Studien sich verwühlend, der andere durch das Schlafzimmer einer schönen

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