Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Leben, von der Schale befreit, im rotglühenden Kerne geheimsten Wesens zeigte, die innerste Glut seines eigenen Seins mit dem gleichen ehernen Griff verschlossen.
Balzacs Codices vom eleganten Leben
In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 14 (1911-12)
W ir sind eigentlich gewohnt, die seelische Persönlichkeit eines Dichters um so besser zu erfassen, je mehr wir in seine Werke eindringen. Die Balzacs aber wird in dem Maße rätselhafter, als wir mehr und mehr Bücher und Dokumente über ihn erhalten; weil sein Genie nicht so sehr durch die Intensität seiner einzelnen Bücher zur Unbegreiflichkeit sich steigert, sondern durch die Vielfältigkeit, den ganz ungeheuren Umkreis seiner Gestaltungsmöglichkeiten, diesen Kosmos von Geschehnissen aller Zeiten, dieses Kompendium aller Sitten, Gebräuche, Anschauungen und Konventionen zum Rätsel wird. Die Summe von bewältigtem Lebensmaterial in seinem Werk ist absolut unvergleichlich mit der jedes andern Künstlers. Balzac hat alles gewußt, was sein Gedächtnis und auch nur im Fluge gestreift hat, ja noch mehr, mit einer geheimnisvollen Intuition Dinge geschildert, die genau zu kennen ihm versagt sein mußte und deren Wesenheit er dank dieses genialen Spürsinns doch besser als alle Fachleute und Miterlebenden wiedergab.
Dafür ist dieses auferstandene Buch von der eleganten Welt wieder ein neues Beispiel. (Balzac hat tatsächlich nie Zeit, nie Gelegenheit gehabt, elegant zu sein (er sagt ja selbst in diesem Werk: »Der Mensch, der einmal an die Arbeit gewöhnt ist, kann das elegante Leben nie erfassen«). Als junger Mensch, ein kärglicher Student, war er ausgeschlossen durch die Armut, durch die Qual eines jämmerlich kleinen Berufs, der ihn tagsüber in eine Advokatenstube, abends und nachts in ein ärmliches Studierzimmer einschloß; damals hatte er kein Geld, um elegant zu sein, und später, als die großen Honorare kamen (um freilich rasch in nichts zu verrinnen), fehlte wieder die Muße, denn ein Werk nach dem andern nagelte ihn an den Schreibtisch hilflos an. Er hatte keine Zeit zur Eleganz und – daß er sie so meisterlich zu erklären und zu rechtfertigen versteht, darf nicht als Gegenbeweis gelten – auch kein Talent. Kein Talent, schon rein körperlich: dick, massig wie er war, mit seinem breiten, starken Nacken, der jeden Kragen zersprengte, seinem roten Gesicht und den derben Metzgerfingern. Seine Zeitgenossen wissen nichts Sonderliches von seinem persönlichen Geschmack zu berichten, im Gegenteil: Balzac verstieß gegen das oberste Gesetz, das er selber in diesem seinem Buch aufgestellt, gegen die Unauffälligkeit. Zu Hause trug er phantastische Kostüme, das berüchtigte Mönchsgewand, dieses allerdings mehr aus Eitelkeit, denn er hatte es eigens so wie die Frauen in den hoffnungsvollen Monaten als eitlen Schutz gegen seine Leibesunförmigkeit erfunden. Im Theater liebte er knallende Westen zur Schau zu tragen und jenen berüchtigten gigantischen Stock mit dem im Riesenknauf verborgenen Porträt der Madame de Hanska, den später Oscar Wilde erwarb. Man sagte ihm nach, daß er diesen Stock eigens trug, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; das mag Pariser Gehässigkeit sein, aber jedenfalls war Balzac weit entfernt von einem Lebemenschenideal, und irgendwo in seinem Werke entschuldigt er sich dafür, indem er dem Künstler als einzigem verstattet, willkürlich der Mode Schach zu bieten.
Diese eigene Unfähigkeit zur Eleganz beweist aber gar nichts gegen sein Verständnis. Balzac hat die divinatorische Gabe der vollkommenen Rechtfertigung, er ist ein Dialektiker, der jedem Menschen von seinem Standpunkt aus recht zu geben weiß, dem Geizigen wie dem Verschwender, dem Arbeiter und dem Träumer, dem energischen wie dem schwachen Charakter, und sein merkwürdiges Talent neigt überdies dazu, jede dieser gelegentlichen Ansichten gleich systematisch zu verdichten. So hat er auch hier mit dieser raschen Art theoretischer Improvisierung ein System der Eleganz begonnen, so wie ein paar Jahre vorher eines der Liebe, so wie die merkwürdige, noch nicht ganz ausgedeutete Theorie des Willens in Louis Lambert, und die tausend einzelnen Axiome in seinen Werken, die alle irgendwie Handgriffe sind, mit denen eine sichere Faust ein System aus dem Wirrwarr der Meinung hervorziehen könnte. Ihm selber fehlte zur Möglichkeit einer absoluten Weltanschauung oder eines starren Systems überhaupt die interessierte Parteinahme. Balzac
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