Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Felsen fallend, da sind Bäche und Flüsse, Wasser in allen seinen unfaßbaren Formen. Da ist Grün in allen Farben, Urwald bis knapp heran an die Stadt mit wuchernden Lianen und undurchdringlichem Dickicht, da sind Parks und gepflegte Gärten, die jeden Baum, jede Frucht, jeden Strauch der Tropen in scheinbarem Durcheinander und doch weiser Ordnung vereinen. Überall ist die Natur eine überschwengliche und doch harmonische, und inmitten der Natur die Stadt selbst, ein steinerner Wald, mit ihren Wolkenkratzern und kleinen Palästen, mit ihren Avenuen und Plätzen und farbig orientalischen Gäßchen, mit ihren Negerhütten und gigantischen Ministerien, mit ihren Badestränden und Kasinos – ein Alles-Zugleich, eine Luxusstadt, eine Hafenstadt, eine Geschäftsstadt, eine Fremdenstadt, eine Industriestadt, eine Beamtenstadt. Und über dem allen ein seliger Himmel, tiefblau des Tags wie ein riesiges Zelt und nachts besät mit südlichen Sternen; wo immer der Blick in Rio hinwandert, ist er von neuem beglückt.
Es gibt – wer sie einmal gesehen, wird mir nicht widersprechen – keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, eine unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr. Schon das Meer hat in einem sonderbaren Zickzack die Strandlinien gezogen und das Gebirge ihr in den Raum der Entfaltung steile Hänge geworfen. Überall trifft man auf Ecken und Kurven, alle Straßen schneiden sich in unregelmäßigen Formen, unablässig verliert man die Richtung. Wo man zu Ende zu sein glaubt, stößt man auf einen neuen Anfang, wo man eine Bucht verlassen, um in den Kern der Stadt zu dringen, gelangt man überrascht an eine andere Bucht. Auf jedem Weg entdeckt man etwas Neues, einen überraschenden Durchblick von den Hügeln, einen kleinen, wie aus der Kolonialzeit vergessenen Platz, einen Markt, einen palmenbestandenen Kanal, einen Garten, eine favela . Wo man hundertmal vorbeigegangen, findet man, wenn man aus Versehen eine Nebengasse nimmt, sich in einer anderen Welt: es ist, als ob man auf einer Drehscheibe stünde, die einen ununterbrochen zu anderen Ausblicken bringt. Dazu kommt noch, daß sich die Stadt mit einer radikalen Geschwindigkeit von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat verändert. Jemand, der ihr einige Jahre ferngeblieben, braucht geraume Zeit, um sich wieder zurechtzufinden. Man will einen Hügel hinauf, wieder einmal die alten romantischen Quartiere mitten in der Stadt zu sehen, und findet ihn nicht: er ist einfach abgeräumt, und ein mächtiger Boulevard, rechts und links von zwölf Stock hohen Häusern flankiert, durchquert die alte Stelle. Wo ein Felsen den Weg sperrte, ist jetzt ein Tunnel, wo das Meer zutraulich bis an den Strand kam, ein Flugplatz weit ins Meer gebaut, wo man vor drei Monaten noch an einer abgelegenen Küste im leeren weichen Sand hinstapfte, steht eine ganze Villenkolonie; all das geht hier mit traumhafter Geschwindigkeit. Überall geschieht etwas, überall ist Farbe, Licht und Bewegung, nichts wiederholt sich, nichts paßt zusammen, und doch paßt alles zusammen. Spazierenschlendern – in anderen Großstädten unergiebig und kaum mehr möglich – ist hier noch eine Lust und eine tägliche Entdeckungsfreude. Wo immer man sich befindet, überall wird dem Blick eine Wohltat getan. Man geht zu einem Freunde und schaut im Gespräch vom sechsten Stock zufällig aus dem Fenster: breit und majestätisch, wie man sie nie gesehen, breitet sich die Bucht mit ihren schimmernden Inseln und gleitenden Dampfern vor einem aus. Man tritt in derselben Wohnung in ein rückwärtiges Zimmer, und fort ist das Meer, aber entgegen glüht einem das Kreuz des Corcovado und die dunklen Gestalten der Sterne. Stundenweit glänzen die Lichter der Straße, und zugleich sieht man, wenn man sich vom Balkon vorbeugt, unten in ein Negerdorf mit kleinen Hütten und farbigen Lichtern hinein. Man will zur Stadt fahren, und der Weg geht quer über einen Berg; jeden Augenblick bittet man den Freund, der den Wagen chauffiert, anzuhalten, um einen andern überraschenden Ausblick nicht zu versäumen. Man will in ein Vorstadtviertel, um sich dort an den bunten kleinen Läden zu erfreuen, und findet sich plötzlich zwischen großen feudalen Palacetes mit hundertjährigen Gärten. Man fährt bei Santa Teresa mit der Tram den Berg hinauf, um ganz in der einsamen Natur zu sein, und ist plötzlich auf einem Aquädukt aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein paar Minuten später inmitten einer Gruppe
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