Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Sicherheitsmänner, der andere war in der Halle geblieben, damit niemand von dort in den Backstagebereich laufen konnte. Vor allem nicht mein Vater. Ein anderer Sicherheitsmann der zum Haus gehörenden Security-Firma saß vor dem Dopingkontrollraum. Die meisten anderen Kabinen waren an dem Abend schon leer, denn fast alle Kämpfe waren bereits geschlagen. Meiner sollte der letzte werden, der Höhepunkt eines schönen Box-Abends. Die anderen Sicherheitsleute der Hausfirma gingen nun raus in die Halle, weil auch sie meinen Kampf mitansehen wollten, nur der Mann vor dem Dopingkontrollraum blieb dort sitzen.
Mein Ringarzt Mark Dorfmüller war bei mir, mein Physiotherapeut Norbert Sekey und natürlich mein Trainer Jürgen Grabosch. Eine halbe Stunde vor dem Kampf zogen sie mir die Boxhandschuhe an, und ich begann, mich locker einzuschlagen.
Normalerweise ist das die Zeit, in der ich zum Nervenbündel werde. Diesmal war es jedoch anders. Ich war nicht einfach nur nervös, sondern ich hatte richtig Angst. Das hatte ich bisher noch nie gehabt. An meiner Gegnerin lag das aber nicht. Irgendetwas fühlte sich komisch an an diesem Abend. Ich versuchte, die ungewohnte und unerwartete Angst beiseitezuschieben. Redete mir ein, dass es nur an der neuen Konstellation lag: der erste Kampf, bei dem mein Vater nicht dabei war. Oder daran, dass ich über ein Jahr lang nicht im Ring gestanden hatte. Während ich auf den Supervisor wartete, der meine Handschuhe noch signieren sollte, machte ich mich sorgfältig warm und versuchte weiter, die Angst abzuschütteln. Ich war ganz hinten in der Kabine, mein Mantel, mit dem ich gleich einlaufen wollte, hing vorne an der Tür. Es waren noch zehn Minuten bis zum Einlaufen. Ich bat Mark Dorfmüller, mir den Mantel herüberzugeben.
Da knallte es draußen auf dem Gang. Ich dachte erst, dass vielleicht einer, der einen Kampf verloren hatte, seine Kabinentür zugeknallt hatte, so etwas kommt ja öfter vor. Dann hörten wir, wie draußen eine Diskussion losging und schnell lauter wurde. Diese Stimme – ich erkannte sie nicht. Dabei hätte ich sie erkennen müssen. Die Stimme meines Vaters kannte ich in- und auswendig, aber in diesem Moment war sie die eines Fremden. Aus der Diskussion wurde Geschrei, dann gab es noch einen Knall, dann noch einen und noch einen, ganz kurz hintereinander. Wir blieben alle wie versteinert stehen, Mark mit dem Mantel in der Hand an der Kabinentür, ich hinten im Raum. Das Ganze dauerte vielleicht ein paar Sekunden, aber es fühlte sich an wie eine Stunde. Dann flog die Tür auf – und ich sah nur noch ihn. Meinen Vater. Mit einer Pistole in der Hand.
»Alle raus!«, schrie er und fuchtelte mit der Pistole herum. Draußen auf dem Gang lag mein Sicherheitsmann auf dem Boden, völlig hilflos. Mein Vater hatte ihm in die Beine geschossen. Der andere Sicherheitsmann vom Dopingkontrollraum war ebenfalls am Bein getroffen. Mein Team ging sofort aus der Kabine, und er knallte die Tür zu.
Da stand ich allein vor meinem Vater, wie angewurzelt, ließ die Arme hängen. Er sah mich nicht an. Der erste Schuss kam. Sofort. Die Kugel ging glatt durch meine rechte Hand. Mein Vater war drei, vier Meter von mir entfernt und traf ohne langes Zielen genau die Mitte des Handschuhs. Ich schrie. Aber nicht vor Schmerz, sondern wegen des Knalles in dem geschlossenen, kleinen Raum; weil ich dachte, meine Ohren platzten von dem Geräusch. Den Treffer spürte ich nicht. Erst nach ein paar Sekunden merkte ich, dass meine Hand brannte, und nahm sie hoch. Da sah ich das Loch im Handschuh – auf beiden Seiten. Außen, innen. Blut lief heraus. Ich verstand nicht, was da passiert war, und dachte als Erstes: »Verdammt! Mit nur einer Hand kann ich doch jetzt nicht kämpfen!«
Mein Vater kam einen Schritt auf mich zu, legte wieder an und schoss mir in den linken Fuß. Ich schrie, wieder wegen des Knalls. Immer noch sprach er kein Wort. Er sah mir nicht in die Augen, sondern nur dorthin, wohin er als Nächstes zielen würde. Der Treffer verfehlte mein Schienbein und Knöchelgelenk, ging aber glatt durch meine Fessel und natürlich auch durch den Boxerstiefel. Aber Gott sei Dank blieb mein Sprunggelenk heil. Neben mir stand ein Tisch. Ich stützte mich darauf, um nicht zu fallen. Mein Fuß und meine Hand brannten jetzt höllisch. Mit zwei Schritten war mein Vater bei mir, packte mich an den Schultern und warf mich zu Boden. Dabei rissen in meinem rechten Knie der Meniskus und das Kreuzband. Meine
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