Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
helfe ich natürlich mit, und selbstverständlich sehe ich auch regelmäßig nach dem Rechten. Und besuche Kosta. Wir haben inzwischen gutes Personal und einen zuverlässigen Partner für den Betrieb gefunden und eine ganz besondere Mitarbeiterin gewonnen: meine Schwester Katja.
In den drei Monaten, in denen ich mich komplett zurückgezogen hatte, hatte auch unser Verhältnis etwas gelitten. Aber danach näherten wir uns wieder an. Ich vertraue Katja gerne das Café an, wenn ich nicht da bin. Auch für Katja begann nach dem Attentat ein neues Leben wie für uns alle in der Familie. Meine Schwester musste plötzlich Verantwortung übernehmen, Geld verdienen und sich eine Zukunftsperspektive schaffen. All das hatten mein Vater und ich ihr all die Jahre abgenommen. Katja musste spät, aber dafür umso schneller erwachsen werden – und sie überraschte mich auf ganzer Linie. Ich hatte erwartet, dass sie überfordert sein würde, aber im Gegenteil, sie war wahnsinnig fleißig und unterstützte unsere Mutter und unseren Bruder, wo sie nur konnte. Sie verstand sehr schnell, dass sie Geld, das sie verdiente, nicht mehr nur für sich ausgeben durfte, sondern die Familie durchbringen musste. Meine Mutter konnte allein nicht für alles aufkommen, und ich konnte nicht allein zwei Haushalte finanzieren. Inzwischen sehen wir uns wieder fast täglich. Sie ist eben meine liebe, freche kleine Schwester Katja.
Für meine Mutter veränderte sich das Leben auch völlig. Katja und ich halfen ihr, 2011 eine Boutique in Ulm zu eröffnen, denn auch meine Mutter musste den Weg in ein neues Leben finden. Sie, die früher kaum aus dem Haus gegangen war, steht nun den ganzen Tag über im Laden, bedient Kunden – und hat so einen Teil ihrer Ängstlichkeit abgelegt. Sie muss mit den Kunden Deutsch sprechen und kann nicht ständig mich oder auch meinen kleinen Bruder vorschicken, um etwas auf Deutsch zu fragen oder etwas zu erledigen, so wie sie es jahrzehntelang getan hat. Weil es gut funktioniert, ist meine Mutter viel selbstbewusster geworden. Sie hat gelernt, einen Haushalt zu finanzieren und mit ihrem eigenen Geld umzugehen, auch jeden Cent zwei Mal umzudrehen.
Wer glaubt, dass ich als Profisportlerin locker meine ganze Familie ernähren kann, der täuscht sich, denn wenn ich nicht boxe, fließt auch kein großes Geld. Für Auftritte in Fernsehshows bekomme ich ebenfalls keine astronomischen Gagen, auch wenn das mancher glaubt. Mir geht es sicher nicht schlecht, aber ich bin nicht reich, daher müssen meine Mutter und meine Schwester auf eigenen Beinen stehen.
Auch meine Mutter sehe ich inzwischen wieder fast jeden Tag. Wir hatten einen kleinen Streit, weil sie anfangs dagegen war, dass wir einen Hund haben, aber inzwischen hat sie sich an ihn gewöhnt. Es ist der alte Mechanismus: Meine Mutter fürchtet sich vor dem Unbekannten. Vor allem, das sie nicht kennt oder gegen das sie Vorurteile hat. Ihr Reaktion ist dann: Rückzug. Wochenlang sprach sie wegen des Hundes nur das Nötigste mit mir, was völlig überflüssig war. Sie steht sich mit so etwas doch nur selbst im Weg. Es wird besser mit ihr, aber ich bin ungeduldig und wünsche ihr, dass auch sie ihre Ängste in den Griff bekommt. Unser Verhältnis ist besser geworden, viel besser, doch dass sie im Prozess aus lauter Angst nicht gegen meinen Vater aussagen wollte, schmerzt immer noch. Auch quält mich die Tatsache, dass sie weiterhin Kontakt zu ihm hat – wegen meines kleinen Bruders.
Meine Mutter könnte endlich frei sein und müsste sich nichts mehr gefallen lassen, doch es ist ihr noch nicht gelungen, ihre Vergangenheit abzuschütteln. Ihr ganzes Leben lang tat sie folgsam, was andere von ihr verlangten, daher fällt es ihr schwer, sich auf ihr neues Leben einzustellen und es zu genießen. Natürlich geht so eine Veränderung nicht von heute auf morgen, wenn jemand den größten Teil seines Lebens in den eigenen vier Wänden eingeschlossen war wie meine Mutter. Doch sie ist erst 47 Jahre alt, das ist doch kein Alter, um sich aufzugeben, finde ich.
Sie vertraut ihrer eigenen Kraft noch nicht ganz. Das finde ich schade. Manchmal fürchte ich, dass meine Mutter womöglich nie ganz aus dem Schatten meines Vaters heraustreten wird. Vielleicht wird sie nie ihr eigenes Leben haben, solange mein Vater noch lebt und sein einziges leibliches Kind sehen will. Sie wird vermutlich immer tun, was er fordert, und immer Angst vor ihm haben, so wie ich mein ganzes früheres Leben lang
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