Stehaufmaennchen
Minuten wird mir schwindlig. Ich stütze mich am Waschbecken ab, rutsche aus und schlage mir an der Kloschüssel den rechten oberen Schneidezahn aus. Den einzigen gesunden Zahn in der Vielfalt meiner Ruinenlandschaft.
Gebe auf und beschließe, zum Zahnarzt zu gehen. Ganz unverbindlich.
11 Uhr
War gerade beim Zahnarzt. War gar nicht so schlimm. Bin testweise erst mal den Weg abgegangen. Beim nächsten Mal werd ich vielleicht sogar mal reingehen. Im Augenblick besteht jedenfalls keine Notwendigkeit mehr, denn die Zahnschmerzen haben eine Pause eingelegt.
11 Uhr 5
Pause vorbei. Renne wieder durch die Wohnung. Schiebe einen Film in den Videorekorder, um mich abzulenken. Ein Film mit Dustin Hoffman. Marathon Man . Die Folterszene mit dem Zahnarzt gibt mir den Rest.
15 Uhr
Geschafft. Liege im Behandlungsstuhl. Natürlich unverbindlich. Der Zahnarzt hat einen Kollegen. Beide betrachten interessiert einen meiner Backenzähne. Dafür müssen sie mir noch nicht mal in den Mund gucken. Der Zahn ist einfach so rausgefallen. Ich muss zugeben, dass so eine Zahnarztpraxis heutzutage anders aussieht als vor zwanzig Jahren. Es gibt Bilder an der Decke, die man betrachten kann, während der Arzt arbeitet. Man kann Musik hören. Das Beste aber ist: Es gibt eine Narkose. Sogar eine, die funktionieren soll. Klar, der Fortschritt ist ja auch an der Medizin nicht vorbeigegangen.
Der Kollege gibt mir eine Spritze. Nach zwanzig Minuten soll ich nichts mehr spüren. Spüre aber noch was. Der Kollege legt nach. Noch eine Spritze. Die würde sogar einen Elefanten umhauen. Kann ja sein. Mich aber nicht. Ob ich eine Narkoseresistenz hätte. Nein, aber Zahnschmerzen. Dritte Spritze. Ich soll bis zehn zählen. Als ich bei hundert bin, ziehen sich die beiden zu einer Beratung zurück. Bei 365 kommen sie wieder. Ich hätte mit Sicherheit eine Narkoseresistenz und müsste in eine Spezialpraxis.
16. März 1986
Habe einen Termin bekommen. Am 26. März. Einen Tag nach meinem Geburtstag muss ich in die Spezialpraxis.
18. März 1986
Zum Problem meiner Zahnschmerzen gesellt sich ein zweites Problem. Die Nahrungsaufnahme. Meine Nahrung muss sich exakt in einem Temperaturfenster zwischen 24 und 25 Komma 5 Grad bewegen, um keine Fiesta in meinem Schmerzzentrum auszulösen. Außerdem muss ihre Konsistenz der eines eingeweichten Milchbrötchens entsprechen. Ohne Rosinen.
25. März 1986
Feiere Geburtstag. Meine Zahnschmerzen feiern auch ein Jubiläum: ihr zehntägiges Bestehen. Mama schenkt mir Nussecken. Bedanke mich und lege sie in die Küchenschublade zu den Nussecken vom Vorjahr.
26. März 1986
Wieder im Behandlungsstuhl. Spüre nichts, denn ich kriege eine auf mich angepasste Vollnarkose. Als ich wieder aufwache, sind die Schmerzen weg. Heureka! Frage den behandelnden Arzt, ob ich noch mal wiederkommen muss. Der Arzt schaut mich verständnislos an und schiebt mir einen Terminplan rüber. Dann sagt er, ich solle mich darauf einstellen, die nächsten eineinhalb Jahre alle acht Wochen hier zu erscheinen. Schließlich handele es sich um eine Rundumsanierung. Seufze tief und willige ein.
Köln wurde schließlich auch nicht an einem Tag wieder aufgebaut.
38. Bofrost
25. März 1987
Habe einen neuen Job. Durchs Land fahren und Tiefkühlkost verkaufen. Für die Firma Bofrost. Klingt einfach. Scheint aber doch komplizierter zu sein, denn man muss extra einen Lehrgang machen, bevor man losfahren darf. Eine Art Tiefkühlkoststudium. Wow! Hätt ich nicht gedacht, dass ich noch mal studiere. Freue mich schon auf die Semesterferien.
26. März 1987
Das Studium findet in einer Firmenzweigstelle bei Siegburg statt und dauert einen Tag. Aus der Traum von den Semesterferien.
Morgens ist Theorie. In einem Schulungsraum lerne ich zusammen mit anderen Bewerbern, dass Tiefkühlkost nicht zu warm werden darf. Eine Erkenntnis, zu der ich ohne den Lehrgang sicher niemals gekommen wäre. Dann stellt uns der Seminarleiter das Sortiment vor. Auf Bildern lerne ich aufregendes Tiefkühlgemüse kennen wie Spinat, Erbsen und Möhren. Ein Highlight und ganz neu im Programm sind ein paar Fertiggerichte. Mittags dürfen wir sogar eins in der Kantine kosten. Es gibt saure Nierchen. Mag aber keine sauren Nierchen und frage den Seminarleiter, ob in der Nähe eine Pommesbude sei. Der Seminarleiter meint, ich müsse noch intensiver an meinem Firmenzugehörigkeitsgefühl arbeiten. Schließlich müsse ich mich ja auch mit den Produkten identifizieren. Ich würde mich aber lieber mit
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