Steile Welt (German Edition)
Namen. Damals wusste man nicht viel mit so einem anzufangen. Er war so eigen und unberechenbar, dass wir ihm aus dem Weg gingen. Zwei Jahre später starb er dann. Das war, so glaube ich, für alle besser so. Denn obwohl er ja ein erwachsener Mann war, musste man auch auf ihn aufpassen und schauen, dass er genug zu essen hatte. Nach seinem Tod erschien plötzlich eine weitere Tante bei uns. Sie war zum Arbeiten nicht geschaffen. So sass bereits wieder eine Person bei uns am Tisch, die nicht mithalf, aber satt werden wollte. Und wir hatten ja nur Papa, der Geld verdiente. Das war eine mühsame und traurige Zeit.
Vielleicht war es deshalb, dass Papa beschloss, uns zu sich nach Genf zu holen. Das gab unserem Leben wieder eine völlig neue Wendung. Es war vieles abzuwägen und zu überdenken, da es sich um einen radikalen Wechsel handelte. Wir waren nicht begeistert von der Idee, kannten wir doch unsere Verwandten in Genf fast gar nicht. Ich fand es ungerecht. Wollte mich nicht von der Zia trennen. Im Nachhinein denke ich, dass mein Vater das schon richtig gemacht hat.
An meinem letzten Tag an diesem Ort trug ich zusammen mit der Zia noch den Mist auf die Felder. Am nächsten Tag reisten wir dann ab. Erst glaubte ich noch, es sei nur für einen Monat, um Ferien zu machen. Es war aber so, dass ich für die nächsten drei Jahre das Dorf nicht mehr wiedersah, was mich und die Zia sehr betrübte. Meine Brüder durften noch zwei Jahre im Tessin bleiben. Es war eine schwierige und traurige Zeit in meiner neuen Heimat. Da weinte ich sehr viel. Papa versprach mir immer die Rückkehr, aber die Monate vergingen, und ich begann dort dann die Schule, musste Französisch lernen. Mit der Zeit fand ich an diesem Leben doch noch Gefallen und integrierte mich gut in die neue Gemeinschaft. Ich wurde anders eingekleidet, mit bereits getragenen Sachen zwar, aber die waren modern, warm und zweckmässig. Ich trug nicht mehr länger Schwarz. Ich bekam auch genug und viel zu Essen. Speisen, die ich bisher gar nicht gekannt hatte. Für mich war das gewaltig. Das war sicher etwas, was mich zusätzlich überzeugt hatte, bleiben zu wollen. Als ich nach drei Jahren Abwesenheit wieder einen Monat bei der Zia verbrachte, verstand ich dann, dass dieses Dorf nun endgültig hinter mir lag, und damit auch meine Kindheit.
Aus meiner Kindheit im Tessin behalte ich das Folgende: Ich lernte Bescheidenheit und Demut, Genügsamkeit, aber auch den Mut, sich etwas zu erkämpfen und nicht aufzugeben. Das waren wertvolle Erfahrungen, die ich gemacht hatte und nicht missen möchte. Ich bedaure es nicht, unter diesen Umständen aufgewachsen zu sein. Es war ein einfaches Leben unter schwierigsten Voraussetzungen. Aber man darf nicht sagen, dass daraus ein seelisch verletzter Mensch hervorgegangen ist. Im Gegenteil. Daran bin ich gewachsen und stark geworden.»
pístula
Die Dörfer, alle auf der Sonnenseite, gleichen aus der Ferne vom Himmel gestreuten Zuckerwürfeln. Hier eine Handvoll, da die nächste. An die Hänge geklebt, unter Felswände gezwängt, so als suchten sie Schutz vor der übermächtigen Naturgewalt. Jedes Haus in seiner Art eine Feste gegen Sturm und Schnee, Felssturz, Sintflut oder Augusthitze. Dem allem vermögen sie standzuhalten. Nicht aber der Zeit. Diese nagt selbst am Stein. Auch wenn dieser Härte zeigt, so dringen doch die Jahre durch die Ritzen und zersetzen die Tragfähigkeit. Steinerweichen. Dem Tod geweiht ist, was unbewohnt. Leben in den Dörfern. Ohne das geht es nicht mehr weiter.
In diesem Dorf war man nun in fast jedem Haus. Was von aussen alle Einflüsse abwehrt, ist inwendig warm, kühl im Sommer. Die wenigen kleinen Fenster, eingelassen in die dicken Mauern, geben dem Sonnenlicht wenig Gelegenheit, sich zu entfalten. Die Ausstattung entspricht einer anderen Zeit, der Wohnbedarf folgt alten Gepflogenheiten. Die Möbel aus schwerem Holz, dunkel, für die Ewigkeit gezimmert, strahlen Behäbigkeit aus. Standhaftigkeit und Beständigkeit, als möchten sie der nächsten und übernächsten Generation immer noch zu Diensten sein. Gewichtig füllen sie die Wohnräume, werden regelmässig mit Politur aufgemöbelt. Hirschgeweihe, Schonbezüge, Makramee und Trockenblumen. Wer nach Klischees sucht, wird fündig. Schwarzweiss die Ahnen, bunt die Zukunftsträchtigen. Die Fotos fallen nicht aus ihren Rahmen. Wenn Bilder, dann in Öl, naturgetreu. Gewohnt wird in der Küche um den Tisch, wahlweise auf Stabellen oder Eckbank, der Fernseher in
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